Priester als Sexualtherapeut: "Den kann man ansprechen"
Justinus M. Reich, Leiter der "offenen tür berlin e. V.", berät Paare bei Problemen mit ihrer Sexualität. Der Clou: Er ist Priester und lebt selbst abstinent.
taz: Wieso berät ein katholischer Priester in Sexualfragen?
Pater Justinus: Paarprobleme ziehen oft sexuelle Schwierigkeiten und sexuelle Schwierigkeiten oft Paarprobleme nach sich. Somit war es für mich nur logisch, mich als Paartherapeut zusätzlich im Bereich Sexualberatung zu qualifizieren. Es wenden sich auch Geistliche an mich, weil sie am Gelübde der Keuschheit zu scheitern drohen. Daher ist mein Titelzusatz "Sexualberatung" auch eine Art Signal: Bei dem kannst du dieses Thema ansprechen, dem fällt nicht gleich das Gebiss aus dem Mund.
Halten Sie sich aber auch für dafür geeignet?
Es ist offenbar ein unausrottbares Klischee, dass Priester beim Gesprächsthema Sex entweder jungfernhaft erröten oder vor Erregung speicheln. Männer, die sich für den Priesterberuf entschieden haben, entstammen zunehmend ursprünglich nichtkirchlichen Milieus. Sie befinden sich oft bereits im mittleren Lebensalter und verfügen somit meist über ausreichend Erfahrung in Partnerschaft und natürlich auch in Sexualität. Sexualberatung meint nicht, dass ich praktische Sex-Anleitungen gebe. Es ist in erster Linie der qualifizierte Gesprächsrahmen, der den Ratsuchenden hilft, über Sexualität zu sprechen und dieses für viele oft noch immer heikle Thema in ihre Biografie oder Paarbeziehung einzusortieren.
Glauben Sie, Sie können auch junge Menschen mit ihren Problemen beraten?
Ich bin kein Sexualpädagoge und so gehört Sexualaufklärung nicht zu meinem Kerngeschäft. Was mir aber auffällt, ist, dass junge Erwachsene durch die fast flächendeckende Pornografisierung der Gesellschaft in Werbung und den übrigen Medien enorm irritiert sind. Sex ist durch Kommerzialisierung omnipäsent und damit banalisiert, andererseits erleben nicht nur junge Menschen die gängige Dissoziation von Liebe und Sex zuerst als befreiend, dann aber als extrem frustrierend und sie leiden zunehmend unter sexuellem Leistungsdruck, einer Art Diktatur des Orgasmus.
Zur Beratung gehört auch das Thema Abtreibung. Wie können Sie die Paare diesbezüglich neutral beraten?
Die "offene tür berlin" (otb) ist seit 50 Jahren in katholischer Trägerschaft. Dass ich Priester bin, verheimliche ich nicht. Wenn Menschen mich aufsuchen, dann tun sie dies in der Regel gerade deshalb. Allerdings habe ich meist mit Einzelklientinnen oder Paaren zu tun, die vielleicht Jahre zuvor einen Abbruch vorgenommen haben und enorm darunter leiden. Gemeinsam suchen wir dann in der therapeutisch-spirituellen Arbeit Wege aus der Extrembelastung.
Sind alle Ratsuchenden religiös oder spirituell geprägt?
Nein. In die otb kommen Menschen mit unterschiedlichem gesellschaftlichem und weltanschaulichem Hintergrund.
INTERVIEW: REBECCA HOFFMANN
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!