eisstockschießen: Preußen spielen Bayerisch Boule
Blumentopf-Meisterschaften
Sie schauen so aus, wie man sich Eisstockschützen vorstellt. Männer in reifem Alter mit gut angefütterter Bauchmuskulatur marschieren mit gewichtigen Mienen würdevoll über das Eis. Doch irgendetwas scheint nicht zu stimmen an diesem Tag: Misslingt einem der stattlichen Herren ein Schuss, ist kein kehliges „Kruzifix noamoi naa“ zu hören, eher ein zurückhaltendes „Dit kann ja wohl nüsch wahr sein“. Auch gehen die Stockschützen ihrem Sport nicht auf einem zugefrorenen Bergsee vor malerischer Alpenkulisse nach, sondern auf der Kunsteisfläche des Erika-Hess-Eisstadions im Wedding und spielen die Berliner Meisterschaft aus. Eine ernste Angelegenheit. Denn die besten qualifizieren sich für die Meisterschaft der Region Ost, bei der man das Ticket für die nationalen Titelkämpfe lösen kann.
„Da gibt’s für uns natürlich keinen Blumentopf zu gewinnen“, meint Günter Marschall, 72 und lange Jahre oberster Eisstockfunktionär in Berlin. Einmal in der Woche trainieren die Berliner in der Weddinger Eishalle – zu wenig, um mit den Bayern mithalten zu können. Dort ist der Eisstocksport das Freizeitvergnügen tausender Trachtenhutträger. In Berlin hingegen gibt es lediglich etwa 80 aktive Eisstocksportler, und die sind meist auch nicht mehr die Jüngsten. „Der Nachwuchs ist nur sehr schwer zu begeistern“, klagt Marianne Hofmann, frisch gebackene Einzelmeisterin bei den Frauen und „Obmann“ der Stockschützen im Berliner Eissportverband. „Für so eine Meisterschaft muss man früh aufstehen, und dann ist es auch noch so kalt in der Halle.“
Die meisten Aktiven sind schon mehr als 20 Jahre dabei. Der Sport habe auch mal eine große Zeit gehabt, erzählt der Berliner „Mister Eisstock“ Marschall. Man habe sogar die Deutschen Meisterschaften ausgerichtet. Lang, lang ist’s her. Sein Verein, der Berliner Eisstock Club, kann nicht einmal mehr vier Aktive aufbieten und deshalb auch nicht an der Mannschaftsmeisterschaft teilnehmen. Der Teamwettbewerb funktioniert ähnlich wie Boule. Es gilt, den Eisstock möglichst nah an die „Daube“, eine Art Zielpuck, zu platzieren.
Am besten gelang dies am Sonntag Peter Herzog, der sowohl den Einzelwettbewerb gewann als auch seine Mannschaft, den Polizei SV Berlin, zum Titel führte. „Kein Wunder“, meint Marschall, „das ist ein Österreicher, dem ist der Eisstock schon in die Windel gelegt worden.“ Zwar würde Herzog mit seinen langen Haaren und seiner schlaksigen Figur in jeder bayerischen Mannschaft wie ein Fremdkörper wirken, wie er sich allerdings stärkt, das ist im Freistaat anerkannt. Jede kleine Unterbrechung nützt Herzog für ein halbes Bier. Die meisten anderen Teilnehmer wirken da eher brav. Ganz wollen aber auch sie nicht auf Zielwasser verzichten, und so schieben sie sich regelmäßig eine Praline mit Piemontkirsche zwischen die Kiefer. „So sans, die Preißen“, würde man wohl in Bayern dazu sagen.
ANDREAS RÜTTENAUER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen