Press-Schlag: Wabern in der Cloud
BRUTALOFOUL Warum der Videoschiedsrichter im Fall Gentner komplett versagt hat
Man weiß nicht, was „Köln“ sich dabei gedacht hat. Es ist auch unklar, ob „Köln“ sich eingeschaltet hat, als dem Stuttgarter Abwehrspieler Christian Gentner der Schädel brutal eingeschlagen wurde. Vielleicht meldete sich „Köln“ beim Schiedsrichter, vielleicht auch nicht.
„Köln“, das ist das ausgelagerte Standgericht der Deutschen Fußball-Liga. Irgendwer sitzt da vorm Monitor, richtet in Sekundenschnelle und lässt dann den Schiedsrichter am anderen Ende der Leitung das Urteil exekutieren. Das ist in ungefähr so transparent wie eine Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Überwachung der deutschen Geheimdienste. Es sind nicht nur die Moderatoren auf Sky, die sich jetzt bei jeder kniffligen Situation fragen: „Was sagt Köln wohl dazu?“
Doppelte Standarts
„Köln“, das ist der videophile Big Brother, der manchmal spricht und manchmal nicht. Seine opake Existenz gibt ihm Macht. Das Fußballgewissen wabert wissend in einer Cloud über Köln.
Es ist ein Skandal, dass „Köln“ sich im Fall Gentner entzog. Es sprach, selbst wenn es gesprochen haben sollte, kein Recht. Der Torwart Koen Casteels, Torhüter des VfL Wolfsburg, hatte den armen Christian Gentner übel mit dem Knie an der Backe erwischt. Es war eine Aktion, die in den Schlachtkäfigen der Mixed-Martial-Arts-Kämpfer gefeiert worden wäre – von einer menschlich verwahrlosten Fanszene, die erst auflebt, wenn schwere Hirnschäden zu erwarten sind und die Richtstätte mit Blut verschmiert ist.
Auf dem Fußballplatz hat so ein Knock-out einfach nichts zu suchen. Und wenn es doch zum Äußersten kommt, gehört der Übeltäter sanktioniert.
Gentners Diagnose ist erschütternd und macht das Versagen von „Köln“ doppelt deutlich: Oberkiefer, Nasenbein sowie unterer und seitlicher Augenhöhlenboden sind gebrochen, hinzu kommt eine schwere Gehirnerschütterung. Schwer erträglich waren auch die Kommentare der vermeintlichen Experten, die Torhütern im Strafraum ein Sonderrecht einräumen wollten. Ja klar, der Keeper könne in dieser Zone ohne Rücksicht mit dem Knie voran in den Gegner gehen, machten sie glauben. Darf ein Torwart das wirklich?
Im Laufe der Zeit haben sich tatsächlich doppelte Standards etabliert. Torhüter dürfen im Strafraum oftmals Spieler abräumen, ohne dass ein Foul gepfiffen würde. Die Härte der Keeper wird geduldet, weil der Ballfänger sich in vielen Situationen ungeschützt vor die stollenbewehrten Stiefel der Stürmer wirft und somit eines besonderen Schutzes bedarf. Gut so, aber wenn er selbst zum Täter wird, ob fahrlässig oder nicht, dann muss er mit aller Härte bestraft werden. „Köln“ hat das offenbar anders gesehen. Das ist ein Problem. Markus Völker
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