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Press-SchlagDer angenehme Anführer

■ Nach Jan Ullrichs Tour-Sieg erhebt sich die Frage, wer ihn schlagen kann

Der größte Fan von Jan Ullrich heißt Bernard Hinault und hat selbst fünfmal die Tour de France gewonnen. „Das ist der Champion für die nächsten zehn Jahre“, behauptet der Bretone. „Ein neuer Induráin ist auf das Peloton gefallen“, pflichtet die spanische Zeitung El Pais bei, hält es allerdings nicht für ausgeschlossen, daß sich der Deutsche auch als neuer Laurent Fignon entpuppen könnte. Der Franzose hatte 1983 ebenfalls mit 23 Jahren seine erste Tour gewonnen, und alle Experten waren sicher, daß das bebrillte Kraftpaket locker die Erfolge seiner legendären Landsleute Bobet und Anquetil übertreffen würde. Doch wie sich herausstellte, war Fignons zweiter Erfolg 1984 schon sein letzter Sieg bei der Tour. Zu früh hatte er sich verausgabt, Verletzungen und unkluge Entscheidungen bei der Wahl seines jeweiligen Teams taten ein übriges.

Jan Ullrich, da sind sich alle einig, hat deutlich mehr von Induráin als von Fignon. Da ist zunächst die sparsame Gestik und noch sparsamere Rhetorik des Ost-West-Mischlings, der im authentischen Henry-Maske-Stil Sätze sagt wie: „Es ist wichtig, eine konstante Leistung anzubieten“, dafür aber bei jeder Gelegenheit das Merdinger Kreuz vor seiner Brust schlägt – nicht etwa, weil er religiös ist, sondern „aus Aberglaube“. Bei Pressekonferenzen gibt er, wie El Pais lobt, nicht „vorgefertigte Antworten“, sondern am liebsten überhaupt keine. Geradezu genial, wie er ARD-Reporter Emig am Sonntag in einem kurzen Interview gleich fünfmal wissen ließ, daß er viel lieber duschen gehen würde, als blöde Fragen zu beantworten.

An Induráin gemahnt auch das sportliche Potential von Jan Ullrich. Die körperlichen Voraussetzungen, der elegante Tritt, die Überlegenheit beim Zeitfahren und die Zähigkeit am Berg. Dazu ein kühler Kopf und eine Art natürliche Autorität im Peloton. „Ein angenehmer Anführer“, sagen unisono die Konkurrenten. Wie Induráin eben, der manche kritische Etappe überstand, weil er aufgrund seiner Beliebtheit Verbündete in anderen Teams fand. Natürlich gibt es noch Schwächen. Probleme bei den rasenden Abfahrten, ein Leistungseinbruch in der letzten Woche und große Durchschaubarkeit. Bei Induráin erfuhr man es erst Wochen später, wenn er bei einer Etappe krank oder unwohl gewesen war, Ullrich sahen es die Rivalen schon kurz nach dem Start an.

Um so beängstigender, daß der Deutsche die Tour mit einem Vorsprung gewann (9:09 Minuten), wie ihn der Spanier nie herausgefahren hatte, und zum Tour-Sieg nicht einmal seine Spezialität Zeitfahren benötigte. Wer soll ihn schlagen, wenn er noch besser wird? Wohl kaum Richard Virenque, auch wenn dieser trotzig sagt, daß er eine gute Chance hätte, sofern man die Tour noch mehr auf ihn zuschneide. Das geht allerdings kaum. Jede Menge Hochgebirge, ein langes Bergzeitfahren, viele mittlere Hügel, mehr können Kletterspezialisten wie Virenque oder Pantani kaum verlangen. Wenn sie es da nicht schaffen, wann dann?

Aus dem Kreis möglicher Tour-Sieger verabschiedet haben sich in diesem Jahr wohl endgültig Leute wie Leblanc, Berzin, Ugrumow, Riis und Jalabert, Nachwuchs war nicht in Sicht. Bleiben der ewige Kandidat Alex Zülle, nächstes Jahr mit Virenque bei Festina, und Abraham Olano. Der Spanier war, außer bei seinem Sieg im Zeitfahren von Disneyland, während dieser Tour überhaupt nicht in Erscheinung getreten und trotzdem am Ende Vierter. Eine „Anti-Olano-Tour“ hatte die spanische Presse die diesjährige Rundfahrt schon vor dem Start genannt, denn der Banesto-Fahrer kann zwar in den Bergen gerade so mithalten, aber nichts bewirken. Bei einer Tour ohne Bergzeitfahren und L'Alpe d'Huez, aber dafür mit zwei flachen Zeitfahr-Etappen könnte Olano indes auch einem Jan Ullrich gefährlich werden.

Unter normalen Umständen kann sich der Tour-Sieger von 1997 aber künftig nur selber schlagen. Wenn ihn der Ruhm bequem werden läßt, wie im Falle Berzin, oder, wenn er sich, vom schnellen Geld verlockt, das falsche Team sucht, wie einst Dietrich Thurau. Was keineswegs heißen soll, daß er bei Telekom bleiben muß. Sollte das deutsche Team im nächsten Jahr tatsächlich wieder mit Bjarne Riis antreten, stehen Teamchef Godefroot reichlich Probleme ins Haus, denn der Däne hat deutlich gemacht, daß er keineswegs als Helfer, sondern als Anwärter auf den Sieg bei der Tour 1998 starten wird. Und ein drittes Mal wird die brüchige Liaison Ullrich–Riis sicherlich keinen Gewinner hervorbringen. Matti Lieske

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