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Press-SchlagDonnerwetter – tadellos!

■ Die schöne Gesellschaft ist bei den Sixdays in Berlin standhaft bis zum Morgengrauen

Die Gesellschaft, die all dem bizarren und sehr vergnüglichen Treiben zuschaut, ist standhaft bis zum Morgengrauen.

Wenn Siegfried Rauchfuß alias Ric Gertys den Taktstock zu „Satisfaction“ schwingt, Hallensprecher Herbert Watterott mit seiner unnachahmlich geröchelten Stimme den Marketingmanager des Hauptsponsors begrüßt und Lokalmatador Erik Zabel im Omnium zur finalen Schlußattacke ansetzt – ja dann geht's dem Berliner Radsportfreund beim 87. Sechstagerennen so richtig gut.

Dann beginnt er zu schunkeln, rudert mit den Armen und droht voller Inbrunst gemeinsam mit Ric und seiner Showband: „Nach Hause, nach Hause, nach Hause gehn wir nicht.“ Muß er nicht – die Party geht noch bis Dienstag um Mitternacht.

Immer noch stehen des Nachts Kopf an Kopf Tausende von Menschen auf den Galerien.

Und während sich die Radler ausstrampeln bei Sprints und Rekordfahrten, Runden- und Minutenjagden, Derny- und Steherrennen, gönnt sich der Berliner Radsportfreund gerne mal ein Päuschen. Dann promeniert er durch die Gänge, die sich wie ein U-Bahn-Schacht rund durch das Velodrom ziehen, ißt ein Häppchen oder zwei, läßt sich seine Handlinien analysieren und sammelt noch mal Kraft für den nächsten Zwischenspurt. Von der Biertheke über die Cocktailbar hinein in die Halle. Schließlich wartet dort Ric – und mit ihm „Izzi Bizzi Tini Wini Honolulu Strand Bikini“.

Und in den Logen und im Innenraum sieht der Kenner von Berlin Gesichter aus jenen Kreisen, die sonst der Radrennerei nicht hold sind, die mehr den Pferderennstall und die Pferdestärken des Automobils lieben.

Frisch gestärkt darf er endlich alles geben. Und er gibt alles. Er johlt, er grölt, er beginnt zu tanzen. Und mit den Worten von Marianne Rosenberg stellt Ric ein für allemal klar: „Du gehörst zu mir wie mein Name an der Tür.“

Oder die gar nichts von Sport verstehen und nur das grelle Bild in sich aufnehmen wollen, begleitet von den Walzerklängen der nächtlichen Kapelle.

Die Prominenten, die Stars und Sternchen, die Bekannten dieser Stadt sind selbstverständlich auch angerückt. Ob Single- Boy-Group Jürgen Drews, Plaudertasche Wolfgang Lippert oder Immobilienmogul Willi Bendzko, sie alle wollen mitfeiern. In der VIP-Lounge („Launsch“) natürlich.

Schöne Frauen im Ballkleid und Männer in schwarzem Frack und spiegelblankem Zylinder.

Gegen drei Uhr nachts, wenn Ric nochmals seine Unwissenheit besingt („Polizeistund', die kennen wir nicht...“), die Damen mit den schultergepolsterten Blazern ihre tanzfreudigen Männer in Jeans und Pulli führen, die Halle bebt und die Masse tobt – genau dann kann man das Motto des 87. Berliner Sechstagerennens („Tradition mit Zukunft“) am stärksten spüren.

Und würde der Berliner Radsportfreund seinen Vorgänger Giampetro kennen, er würde sich ihm sicherlich sehr verbunden fühlen – in den Nächten des Berliner Sechstagerennens.

Donnerwetter – tadellos! rief Giampetro, als er heute lange nach Mitternacht die Arena betrat, und fester klemmte er das Monokel ins Auge, ließ das Rennfeld Revue passieren und dachte wohl an den Clou der nächsten Revue... (Berliner Tageblatt vom 17. März 1909) Gerald Kleffmann

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