Preise für politische Netzvideos: Virale Macht
Kann ein Internetclip mehr bewirken als jahrelanger Politaktivismus? Die Viral Video Awards zeichnen erfolgreiche Beispiele aus.
BERLIN taz | Irgendwann schwante den Nestlé-Verantwortlichen wohl, dass sie sich selbst ins Knie geschossen hatten. Im Frühsommer, nachdem ihnen die Entrüstung der internationalen Blogosphäre entgegenschwappte. Und alles nur wegen dieses kleinen Videos, das YouTube auf Hinweis von Nestlé aus dem Netz genommen hatte.
"Ich kann nicht sagen, dass wir einen solchen Erfolg vorhergesagt hätten", sagt Greenpeace-Kampagnenplanerin Daniela Montalto. Die Umweltschutzorganisation hatte das Video als Teil ihrer internationalen Kampagne gegen die Abholzung des indonesischen Regenwalds produziert und gepostet.
Die Geschichte: Im Stil der Werbung für den Nestlé-Schokoriegel Kitkat verspeist ein gelangweilter Büroarbeiter statt Karamellwaffelriegel einen blutigen Affenfinger. 1,6 Millionen Menschen haben diesen Clip gesehen. 300.000 schrieben daraufhin Mails an den Geschäftsführer von Nestlé, sagt Montalto. Einträge und Kommentare auf Blogs, Facebook und Twitter nicht eingerechnet.
Und so schaffte die Greenpeace-Kampagne das, was zähe Gespräche zwischen der Umweltorganisation und dem Schokoladenhersteller zuvor nicht vermocht hatten - nämlich, Nestlé dazu zu bewegen, nicht mehr mit regenwaldrodenden Palmölproduzenten zusammenzuarbeiten. "Heute betreibt Nestlé eine sehr fortschrittliche Policy gegen Regenwaldabholzung", sagt Montalto. Eine, an der sich andere Großkonzerne ein Beispiel nehmen würden.
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Der Preis: Die Viral Video Awards werden am 19. November in Berlin verliehen. Auf viralvideoaward.com kann bis einen Tag vorher über das beste Video abgestimmt werden. Verliehen wird der Preis von dem Berliner Kurzfilmfestival interfilm, der Heinrich Böll Stiftung und einer PR-Agentur - in diesem Jahr erstmals auch für das beste politische Video.
Die Filme: Ein Viral Video ist ein Clip, der sich innerhalb kürzester Zeit über das Internet verbreitet, indem er tausendfach versendet und empfohlen wird. Als Paradebeispiel des politischen Viral Videos gilt "I Got a Crush on Obama", in dem eine Frau während des US-Wahlkampfs 2007/2008 die Vorzüge des damaligen Präsidentschaftskandidaten besang. Oft werden auch Firmen mittels Clips unter Druck gesetzt - darunter Nestlé oder der Ölkonzern Chevron.
Kurzfilm statt Text
Diese Geschichte ist ein Paradebeispiel für falsche digitale Unternehmenskommunikation. Für die Kraft, die politische Netzvideos entfalten können, wenn sie sich per Mundpropaganda im Netz blitzschnell verbreiten. Darum ist der einminütige Greenpeace-Clip für den Viral Video Award nominiert, der Freitag, den 19. November 2010, in Berlin verliehen wird.
"Wir lesen und schreiben heute mit Bewegtbildern", sagt Elisa Kreisinger. Die New Yorkerin sammelt in einem ihrer Blogs politische Videos, in einem anderen postet sie eigene Werke unter dem Namen "Popculturepirate". Es sei doch wahrscheinlicher, dass man sich in der Mittagspause ein kurzes politisches Video ansehe, als dass man sich in dieser Zeit durch einen seitenlangen Magazinartikel arbeite.
Und praktisch jeder, der einen Rechner besitzt, ist heute in der Lage, Filme zu produzieren. Die "Demokratisierung von politischen Kommentaren", nennt Kreisinger das. "Diese Videos haben die Fähigkeit, einen bedeutsamen Wandel in einer kurzen Zeit möglich zu machen - mithilfe von Partizipation von zu Hause aus."
Es hat sich längst herumgesprochen, welche Wirkung derartige kleine preiswerte Videos entfalten können. Wenn sie es denn in die Verwurstungs- und Retweetmaschinerie des Netzes schaffen. Keine größere Demonstration, für die es kein Mobilisierungsvideo auf YouTube gibt. Kein Wahlkampf, in dem die Kampagnenzentralen von Parteien nicht versuchen, das Netz mit Videos anzufüttern.
Nur springt die Netzgemeinde eben oft nicht an auf die Filmbröckchen, die ihnen hingeworfen werden. Doch genau darauf ist ein virales Video angewiesen. Sonst säuft es in der Masse des YouTube-Contents einfach ab.
Welcher Clip zündet, sei nicht planbar, sagt Netzpolitikforscher Christoph Bieber. "Die wenigsten erfolgreichen Videos sind mit der Absicht hergestellt worden, sich möglichst weit zu verbreiten", sagt der Gießener Wissenschaftler. Kurz müsse es sein. Oft würden Clips im Stil von Musikvideos gut aufgenommen. Ein Rezept gebe es aber nicht.
Gut funktioniert hat in Biebers Augen das Video "Du bist Terrorist". Es machte im Mai 2009 die Netzrunde, als die Debatte über den deutschen Überwachungsstaat wegen der Netzsperrpläne der Bundesregierung hochkochte. In Piktogramm-Optik erzählt es die Geschichte der 82 Millionen Terroristen in Deutschland, von denen jeder von uns einer ist und deren Telefonverbindungen und Urlaubsfotos man deshalb speichern muss. Der Animationsfilm habe eine auffällige Optik gehabt, sagt Bieber. Und es habe sich an ein online gut vernetztes Publikum gewandt. Das richtige Thema zur richtigen Zeit eben.
Hinter diesem Video steckte keine große Organisation wie Greenpeace. Sondern ein Student, der sich geärgert hatte - und deshalb beschloss, das Video zu machen. "Weil ich Leute erreichen wollte, die nicht Zeitung lesen", sagt Alexander Lehmann. Herausgekommen ist ein kurzer Film, einfach, eingängig. Mit einem Text irgendwo zwischen gut informiert, unterhaltend und ironisch. Und das, obwohl Lehmann über sich selbst sagt, dass er vor diesem Clip nicht politisch interessiert gewesen sei.
Mehr als Daumen hoch
Im Mai 2009 lud er den Clip bei YouTube hoch. Dann wurde er überrollt, wie er sagt. Innerhalb kürzester Zeit tauchte der Clip auf zahllosen Blogs auf, weitergemailt, getwittert und bei Facebook "gemocht". Hunderttausende sahen seinen Clip an, informierten sich in knapp zwei Minuten über das Thema, über das Experten ganze Papierstapel veröffentlichten.
Die Piratenpartei recycelte Lehmanns Video für ihren Wahlwerbespot. "Extra 3", eine Satiresendung des NDR, kaufte die Rechte ab und strahlte ihn aus. Lehmann gewann den "Viral Video Award" und ist in diesem Jahr mit einem anderen Clip zu Überwachung erneut nominiert.
Wenn sich derartige Videos verbreiten, könne mehr daraus entstehen als einfach ein Haufen hochgereckter Facebook-Daumen oder anderer Einklick-Aktivismus, sagt Wissenschaftler Bieber. Die nämlich wüssten die Adressaten inzwischen ziemlich klar einzuordnen. "Wenn das Engagement aus dem Netz wieder herausgeht, wenn Unterschriften gesammelt werden, es Vor-Ort-Aktionen gibt, ePetitionen, dann kann das eine sehr viel größere Wirkung entfalten." Das gilt auch für Unternehmen.
Konzernen könne man im Netz mehr wehtun als der Politik, sagt Bieber. Weil sie kürzere Befehlsketten haben als Parteien und politische Institutionen, würden sie häufiger in Fettnäpfe bei der Onlinekommunikation treten. Und würden unter Hacks und Blockaden ihrer Homepages auch stärker finanziell leiden.
Der Aufwand sei vergleichsweise gering, sagt Alexander Lehmann. "Ich frage mich oft, warum es so wenige Leute gibt, die satirische Filme machen." Der 26-Jährige verdient inzwischen sogar Geld damit.
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