Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon: Eine andere Generation
In der französischen Politik gilt Benoît Hamon auch mit 49 noch als der ewige Jugendliche – eine offenbar unüberwindbare Hürde.
Hamon, Abgeordneter für das Pariser Vorortdepartement Yvelines, sitzt mit seinem jungen Wahlkampfteam in einem Büro im Tour Montparnasse. Er hat von Anfang an die Jugend in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs gestellt. In der Vorwahlkampagne sei es das zentrale Anliegen gewesen, die Jugend zu mobilisieren, um eine Zukunft für die Linke zu entwerfen, meint Pascal Cherki, einflussreicher Parlamentarier der Sozialisten und einer der wichtigsten Unterstützer des Präsidentschaftskandidaten.
Benoît Hamon hat in Saint-Renan, am westlichen Ende der Bretagne, das Licht der Welt erblickt. Sein Vater ist Ingenieur im Schiffsbau, seine Mutter war Lehrerin und arbeitete später als Sekretärin. Eine ganz normale Familie. Benoît Hamon hat einen kleinen Bruder und eine kleine Schwester.
Bald verlässt die Familie die Bretagne. Sie finden sich in Dakar, im Senegal, wieder. Papa Hamon war versetzt worden: Er bildet jetzt Facharbeiter für die senegalesische Rüstungsindustrie aus. „Ich bin acht Jahre und entdecke eine neue Welt auf der Straße: Es brodelt an allen Ecken“, erinnert sich der ehemalige Bildungsminister. Doch la vie est belle: Schule, Strand, Langusten und schöne Mädchen. Politik kommt kaum vor in diesem Leben.
Der junge Kerl kehrt mit 12 Jahren in die Bretagne zurück. Nicht einfach. „Der Himmel ist grau und hängt tief, die Kleidung ist weniger farbenfroh.“ Die Schuljahre vergehen ohne Zwischenfälle. Nicht gut, nicht schlecht. Im Gymnasium trifft er auf Faschos mit Aufnähern „Hände weg von meinem Volk!“. Als Reaktion steckt er sich das Symbol der kleinen gelben Hand an: „SOS Rassismus“. Seine erste politische Handlung.
Zusammenstöße mit militanten FN-Anhängern
Die zweite dann 1986. Als Student in der Wirtschaftsfakultät gehört er zu den Widerständlern, die sich gegen die geplanten Änderungen am Hochschulgesetz wehren. Es geht um Studiengebühren und Zulassungsbestimmungen. Zusammen mit Mitstreitern tritt er in die Sozialistische Partei ein. Lagerkämpfe. In Brest haben die Anhänger des Sozialisten Michel Rocard die Vorherrschaft.
Hamon erinnert sich: „Es hieß, die Mitterrandianer und die Juppétisten sind unsere Feinde. Ich antwortete: Ach so?“. Für den sozialistischen Präsidenten François Mitterrand und den Gaullisten Alain Juppé durfte man also nicht sein. Hamon ist schnell vorn dabei und landet mitten in Zusammenstößen mit militanten Anhängern des Front National, „Typen, die Boulekugeln in ihre Strumpfhosen steckten.“ Hamon liebt den Zoff.
Die taz und die französische Tageszeitung Libération machen journalistisch gemeinsame Sache. Wir arbeiten erst zur Wahl in Frankreich und dann zur Bundestagswahl zusammen. Dieser Beitrag ist Teil der Kooperation.
Beim Weißwein kommt er im Kreise seiner jungen Mannschaft ins Erzählen: Ein Samstagnachmittag Ende der 80er. Aktivist Hamon verteilt mit einem Kumpel Flugblätter in Brest. „Drei kantige Typen vom FN tauchen auf. Einer ohrfeigt mich. Und schmeißt mich vor allen Leuten in den Brunnen. Die größte Peinlichkeit meines Lebens.“
Er läuft vollkommen durchnässt in die Zentrale der Partei: Die Mannschaft entwirft einen Plan. Die Woche drauf verteilt Hamon an der gleichen Stelle wieder Flugblätter. Die drei Kanten vom FN tauchen wieder auf. Nun aber kommen die Aktivisten von der PS aus ihren Verstecken. Die Demütigung der Woche zuvor wird vergolten. Er ohrfeigt den Revanchisten und wirft ihn in den Brunnen.
Eher Spinner als Anführer
Saint-Renan, Dakar, Brest, dann zieht Benoît Hamon nach Paris. Der Mann, der immer noch Anhänger von Rocard, einem Intimfeind Mitterrands bei den Sozialisten, ist, wohnt in verschiedenen WGs. Die Wohnung in der Rue Lafayette sei „eher ein besetztes Haus als ein Loft“ gewesen.
„Wir waren alle blank“, erinnert sich einer der Mitbewohner. Es ist Olivier Faure, heute Fraktionsvorsitzender der PS in der Nationalversammlung. Verrückte Jahre, Mädchen, politische Kämpfe. „Er war eher ein Spinner als ein Anführer. Er ist sich erst später bewusst geworden, dass er die Fähigkeit hat zu agieren und zu vereinen“, sagt Faure. Hamon dazu: „Ich war Bretone.“ Ihm fehlte der Hauptstadt-Look.
Harte Zeiten für Benoît Hamon: Zwei Monat nach seinem Triumph bei den Vorwahlen der Sozialisten gegen Manuel Valls bleibt er weit hinter seinen Erwartungen zurück. Vor zwei Monaten ist er noch mit 18 Prozent Zustimmung in den Umfragen ins Rennen gegangen. Aktuell liegt er bei 10 Prozent und somit weit hinter Emmanuel Macron und sogar hinter dem anderen linken Kandidaten, Jean-Luc Mélenchon. Im Apparat der Sozialistischen Partei ist sein Sieg nie anerkannt worden. Die Folge: mangelnde Unterstützung für seine Kampagne. Noch schlimmer: Seit ein paar Wochen schlägt sich beinahe jeden Tag ein weiterer Sozialist auf die Seite von Emmanuel Macron, darunter Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian und Expremier Manuel Valls.
Seine Themen: In der Ablehnung der Wirtschaftspolitik von François Hollande wird er nur von den Grünen, die ihren Kandidaten Yannick Jadot zurückgezogen haben, unterstützt. Es fällt ihm schwer, seine Themen zu vermitteln: Grundeinkommen, Atomausstieg 2050 und die Legalisierung von Cannabis.
Seine Auftritte: Vor 20.000 Anhängern in Paris-Bercy im August mag er erfolgreich gewesen sein, aber sein Auftritt beim TV-Duell mit den anderen Kandidaten ein paar Tage später ist eher mittelmäßig besprochen worden. Es bleiben ihm drei Wochen, um wenigstens ein besseres Resultat zu erzielen als Jean-Luc Mélenchon. Nur dann hat er eine Chance, die PS gemeinsam mit den Grünen neu aufzustellen.
Der Bretone nimmt dennoch seinen Platz ein. Er engagiert sich in der Bewegung der Jungsozialisten (MJS) und emanzipiert sich politisch von den Vorgaben der Mutterpartei.
Im November 1993 wird Hamon Chef der MJS. Er engagierte sich nun auch in der linken Studentenbewegung Unef-ID. „Es war die Zeit, als wir entschieden, in unseren Köpfen autonom zu werden: kein Guru, kein Anführer“, erinnert sich Hugues Nancy, ein Weggefährte von damals, der auch einmal Präsident der MJS war.
„Autonom“, auch weil der politische Übervater Rocard nicht mehr mitspielt. Rausgerissen von der Niederlage bei den Europawahlen 1994, geschlagen von Bernard Tapie. „Die neue Linke“ gründet sich im Februar 1995, eine Mikrostruktur, in der vom Ende der Arbeit, der Legalisierung von Cannabis und Minderheitenrechten gesprochen wird.
Herz der sozialistischen Wähler
Hamon, damals 35, also eine Generation älter als die „Jungen“, die auf die Straße gehen, um gegen Jean-Marie Le Pen zu demonstrieren. Er wendet sich weiter vom Mehrheitsflügel der PS ab und schließt sich denen an, die das Etikett „Jugend“ der Partei beleben möchten: Arnaud Montebourg und Vincent Peillon, die die Neue Sozialistische Partei gründen. Hamon geht auf Risiko, „eine Haltung einzunehmen, ohne Aussicht auf einen Posten“, erinnert sich Cherki.
Hamon positioniert sich also am linken Flügel der PS. Für ihn ist es das „Herz der sozialistischen Wähler“. Als Beweis führt er das Votum der jungen Linken beim Referendum zur Europäischen Verfassung 2005 an: Nein.
2008 gründet er zusammen mit Henri Emmanueli die Bewegung „Un monde d’avance“ (Welt des Fortschritts). Da hält man ihn immer noch für einen Anfänger. Die Veteranen der Sozialisten „glauben, er ist ein Kleiner, der sich leicht manipulieren lässt“, meint Cherki.
Aber in Wirklichkeit findet beim Parteikonvent in Reims eine Staffelübergabe statt, die von Emmanuelli und Hamon organisiert wird. 22,6 Prozent der Delegierten stimmen bei der Wahl zum Parteichef für ihn. In der entscheidenden Abstimmung verhilft er der linken Martine Aubry zum überraschenden Erfolg über Mitte-Frau Ségolène Royal.
Mit 49, nach einer kurzen Erfahrung als Minister – er war fünf Monate lang für Bildung, Hochschulen und Forschung zuständig –, erhält er nochmal das Etikett „jung“, als er die Vorwahlen der PS gewinnt und Präsidentschaftskandidat wird. „Das ist, weil er irgendwie nie das Aussehen eines Pennälers verliert“, sagt sein langjähriger Weggefährte Gwenegan Bui. Oft wird er deshalb bezichtigt, ein Dilettant zu sein, was politische Führung betrifft.
„Das ist falsch, er hat Rückgrat. Er denkt die Krise 2008 und ihre Konsequenzen immer mit. Dogmatisch ist das nicht“, verteidigt ihn Cherki. „Er wird immer noch als junger Mann gesehen, weil unsere Generation nie Zugang zur Verantwortung hatte“, glaubt Olivier Faure, der sich an das Lieblingsbuch Hamons aus WG-Zeiten erinnert. „Génération“ von Hervé Hamon und Patrick Rotman, das vom Engagement der jungen Linken in den 50er bis 70er Jahren erzählt. „Ohne sich dessen bewusst zu sein“, fügt Faure hinzu, „dass er eines Tages eine andere Generation anführen wird.“
Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Rüttenauer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn