■ Poststrukturalistische Glühlämpchen brennen nicht: Baudrillard geht Laterne
Über Wetter oder Jahreszeiten spricht man selten beziehungsweise ungern. Aber wäre es neulich nicht Herbst geworden, dann hätte es auf den Straßen unseres Viertels nicht jene öffentliche Veranstaltung gegeben, die man, ohne zu zögern, Laternenumzug nennen könnte. Typisch dafür waren allerlei Laternen, die zahlreiche noch nicht schulpflichtige Mitbürgerinnen und Mitbürger und deren Erziehungsberechtigte unterm fast vollen Mond spazierenführten. Ich schritt mit. Und plötzlich fiel mir Baudrillard ein. Ich sah dieses Ding und erinnerte mich, den Namen Baudrillard in meiner Studienzeit durchaus gehört zu haben. Baudrillard, das war irgendwas mit Simulacrum und Simulation, Signifikat und Signifikant. Ich habe nie so recht verstanden, was der französische Schwerdenker da so zusammengedacht hat, und das lag gewiß nicht daran, daß ich mich, zum Beispiel aus Angeberei, dümmer als nötig gestellt hätte.
Ein Buch wie „Der symbolische Tausch und der Tod“ habe ich nach drei bis fünf Zeilen immer schnell wieder zugeklappt. Ich besitze den Raubdruck noch immer und finde jetzt darin spontan im zweiten Kapitel den Abschnitt „Der Hyperrealismus der Simulation“. Seit dem Laternenumzug weiß ich zwar immer noch nicht, was das bedeuten soll, aber ich habe dieses Ding gesehen und irgendwie das Gefühl, daß man es bedenkenlos „Baudrillard“ nennen könnte. „Brenne aus, mein Licht, brenne aus, mein Licht, aber nur meine liebe Laterne nicht“, schallte es aus manchem Kindermund, und diese Bitte ist, wenn man unser aller Unterbewußtsein befragt, wahrscheinlich geradezu klassisch ambivalent. Denn beim Laternegehen wollen wir was brennen sehen. Abfackeln soll das mit Sonne, Mond und Sternen bedruckte Papier, damit nur noch die Drahtkonstruktion übrigbleibt. Schwankende Lichter im Dunkeln, gut und schön, aber schöner doch und bleibende Erinnerung sind Flammen, die Laternen fressen.
Anzuprangern bleibt nun, daß den Schergen des militärisch-industriellen Komplexes der erwähnte heimliche Kinderwunsch offensichtlich schnurz ist. Seine Erfüllung machen sie mit einem neuen Produkt ein für allemal zunichte. Sie haben etwas erfunden, was jedes Laternenfeuer verhindert. Und das ist das Ding, dem ich den Namen „Baudrillard“ gegeben habe. Das Baudrillard sieht so aus: Aus einem dem traditionellen Laternenstock aus Holz nachempfundenen Plastikstab hängt ein etwa 20 Zentimeter langes Kabel, einer verkrüppelten Peitsche nicht unähnlich. Am Ende des Kabels ist eine kleine Glühbirne montiert. Man kann es sich denken: An den Stab wird eine Laterne gehängt, die elektrische Lichtquelle scheint durchs Papier oder Pappmaché. Die Ingenieure waren gescheit genug, die Stromversorgung durch im Griff des Stabes befindliche Batterien zu gewährleisten, sonst müßte man noch jede Menge Kabeltrommeln mitschleppen.
Aber Spaß beiseite. Man hat also nun – Baudrillard und transluzentes Gehäuse zusammengenommen – etwas in der Hand, das zwar wie eine Kinderlaterne aussieht, aber nicht wie eine Kinderlaterne brennen kann. Es kann überhaupt nichts mehr passieren! Keine Gefahr mehr, kein Bangen und Zittern inmitten der Düsternis. Nichts. Reine Simulation.
Nein, elektrische Kerzen am Weihnachtsbaum sind irgendwie noch etwas anderes. Was, das könnte mir Baudrillard oder Diederichsen oder der Nikolaus darlegen, meine analytischen Fähigkeiten übersteigt das bei weitem. Ich summe oder singe, geh' mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir. Es wird eine Weile dauern, bis ich darüber weg bin. Dietrich zur Nedden
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