Postgender-Pop von Nomi Ruiz: Größer als Gaga
Das Fun Girl hält ihr Versprechen: Die Band Jessica 6 bringt Spaß. Dei transsexuelle Sängerin Nomi Ruiz musste sich aus dem Schatten herausarbeiten.
Eigentlich hätte Nomi Ruiz nur eine Nebenrolle spielen sollen – und doch wird sie gerade, vom TV-Magazin "Arte Tracks", in einem Atemzug mit Debbie Harry als "Super Woman of New York's Music Industry" genannt. Wer nach einer Instanz sucht, die derzeit musikalisch Maßstäbe setzt, ist bei ihr viel besser aufgehoben als etwa bei Lady Gaga.
Tatsächlich ist der Aufstieg der in Sunset Park, Brooklyn aufgewachsenen 24-Jährigen atemberaubend. Als 2008 das Debütalbum des queeren New Yorker Discokollektivs Hercules & Love Affair erschien, wirkte sie mit. Aber im Zentrum standen zunächst andere: Mastermind Andrew Butler, Kim Ann Foxman und nicht zuletzt Antony Hegarty, der große Antony, Kopf von Antony and the Johnsons, dessen brüchig-androgyner Gesang den klassischen Disco-Houseproduktionen Butlers die nötige Tiefenschärfe verlieh.
Als die Kunde herumging, dass Hercules & Love Affair ohne Antony auf Tour gehen würde, war die Enttäuschung bei den meisten Fans erst einmal groß. Doch dann kam der große Auftritt der Nomi Ruiz. Wie sie Antony Hegartys Überhit "Blind" an sich riss und mit ihrer rauchigen Stimme zu ihrem eigenen machte, ließ keinen Platz für Zweifel.
Außerdem entwickelte die hyperfeminine transsexuelle Nomi mit der jungshaften Mitmusikerin Kim Ann Foxman eine faszinierende Eigendynamik. Was ist weiblich, was ist männlich? Die fulminante Bühnenperformance des ungleichen Duos löste stereotype Geschlechterrollen zu diffusen Bildern auf, die nur noch als fragmentarische Spiegelungen auf der Oberfläche der rotierenden Discokugel zu erkennen waren.
Was folgte: weitere Schritte, sich aus Antonys langem Schatten herauszuarbeiten. "Die Arbeit mit Hercules & Love Affair hat mir viel Spaß gemacht. Aber ich wollte lieber eigene Songs schreiben und mich als Künstlerin weiterentwickeln", so sagt es Nomi, wenn man zum Telefoninterview mit ihr verabredet ist.
Wave-Gitarren mit laszivem Gesang
Diese und viele andere spannende Geschichten lesen Sie in der nächsten sonntaz vom 4. und 5. Juni 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz an ihrem Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
6. Juni Werk II Halle A, Leipzig
8. Juni Keller Klub, Stuttgart
9. Juni Luxor, Köln
10. Juni Picknick @ Magnet Club, Berlin
11. Juni Ampere Muffatwerk, München
12. Juni Nachtleben, Frankfurt
Auf der Tour mit Hercules & Love Affair hatte sie Andrew Rasposo und Morgan Wiley kennen gelernt, die als Bassist bzw. Keyboarder Teil der Liveband waren und früher bei der HipHop-Gruppe Automato wirkten. Im Studio der beiden wurde das Projekt Jessica 6 geboren.
Bereits 2009 veröffentlichten sie die Single "Fun Girl", ein düster schillerndes Amalgam aus Wave-Gitarren und Nomis laszivem Gesang. Immer spürbar ist die Verbindung des Trios zur New Yorker Danceszene um das Label DFA Records. So steuerte mit Olivier Spencer einer der profiliertesten New Yorker Houseproduzenten einen großartigen Remix für "Fun Girl" bei. Der Song war ein Versprechen.
Nun ist ihr Debütalbum "See The Light" erschienen. Die zwei Jahre, die seit "Fun Girl" vergehen mussten, waren für Nomi und ihre beiden Musikerkollegen eine Zeit der Selbstfindung. Nomi: "Ich musste erst lernen, wie man eine Crowd für sich einnimmt. Antonys Songs zu singen war eine Herausforderung für mich, an der ich unheimlich gewachsen bin." Durch intensives Touren fanden Jessica 6 zu ihrem eigenen Sound, am Debütalbum arbeiteten sie eher nebenbei. Und doch löst dieses Album jetzt das mit "Fun Girl" gegebene Versprechen ein.
Pop, Disco, House, Soul und R&B – das alles zieht auf dem Album wie bei einer nächtlichen Taxifahrt am Fenster vorbei und verschwimmt im flackernden Licht der Straßenlaternen. Es gibt eine große musikalische Bandbreite und manche Widersprüche werden mit Leichtigkeit handhabbar gemacht.
So ist der Sound ungeschliffen, aber dennoch radiotauglich. Nomi verzichtet auf Gesangseffekte und klingt doch immer künstlich genug, um nicht einer leeren Authentizitätsfetischisierung zu verfallen. Uptempo-Stücke wie "White Horse" rufen Erinnerungen an die seltenen Momente einer geglückten Verbindung von House und Pop wach, wie sie etwa dem Detroiter Duo Inner City mit Hits wie "Big Fun" und "Good Life" Ende der Achtziger gelangen.
Und ihre Wandelbarkeit beweist Nomi mit ruhigen Balladen wie "Not Anymore" oder "Good To Go", auf dem sie der von ihr verehrten britischen Soulsängerin Sade nahe kommt. Im bittersüßen "Prisoner of Love" hat sogar Antony Hegarty einen Gastauftritt. Und bleibt gegen Nomi erstaunlich blass.
Vom britischen Guardian wurden Jessica 6 als Mischung aus den New Yorker Musikclubs "CBGBs" und "Paradise Garage" beschrieben. Das trifft es gut. Das "CBGBs" gilt als Keimzelle der New Yorker Punk- und Waveszene der mittleren Siebziger. Die Ramones debütierten dort. Etwas später begannen Bands wie James Chance & The Contortions dort mit der Dekonstruktion von Punk. Beeinflusst wurden sie dabei maßgeblich vom Disco-Sound, der zeitgleich in der "Paradise Garage" sein Zuhause hatte, dem anderen Underground-Mekka der damaligen Zeit.
Der Bandname verweist auch auf diese Epoche. Jessica 6 heißt eine Figur in Michael Anderson Sci-Fi-Klassiker "Logan's Run" von 1976. Aber zu eng sollte man diese historischen Bezüge auch nicht ziehen. Die Band Jessica 6 wandelt heutzutage jedenfalls gekonnt auf dem immer unschärfer werdenden Grenzstreifen zwischen Underground und Mainstream.
Heteros, Nerds, Queers, Künstler, HipHop-Heads
Ob Nomis klassische Pinup-Pose auf dem Albumcover und die zu Banalitäten ("Let Me See You Dance") neigenden Texte – die Brüchigkeit auf der glatten Oberfläche offenbart sich bei genauerem Hinhören. Und Nomi ist ein popkulturelles Vexierbild, das je nach Betrachterperspektive etwas anderes darstellt.
Stolz erzählt sie, wie zu ihren Konzerten unterschiedlichste Jackengruppen zusammenfinden: Heteros, die keine Ahnung von ihrem Transgender-Hintergrund haben, die Queer-Community, HipHop-Heads, mit denen sie in ihrer Jugend in Brooklyn abhing, Leute aus der Kunst- und Modeszene, Musiknerds. Nomi schafft halt sehr viele Identifikationsmöglichkeiten.
Und wofür spricht sie? Anders als etwa Lady Gaga erhebt Nomi Ruiz nicht ihre Stimme für queere Botschaften in der Öffentlichkeit: "Ich finde es gut, dass sie so viel Verantwortung übernimmt, aber meine Sache ist das nicht, ich bin keine politische Person." Eine Zusammenarbeit der beiden ist aber nicht ausgeschlossen, zwischen Nomi und Gagas Choreografin Lori Ann Gibson besteht ein intensiver Kontakt.
Aber Schützenhilfe hat Nomi längst nicht mehr nötig. Im Gegenteil. Sie ziert mittlerweile die Cover von Modemagazinen so selbstverständlich wie die von Musikzeitschriften, die Designerin Catherine Holstein ließ sich von ihr zu einer Kollektion inspirieren. Sollte also bald eine musikalisch begabtere Nachfolgerin für Lady Gagas Thron gesucht werden, eine potenzielle Erbin wäre schon gefunden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste