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PortraitDer biedere Millionendieb

Nach außen hin wirkte Oh Myeong-se wie der Prototyp eines vorbildlichen Angestellten. Im koreanischen Zweig des Züricher Technologieunternehmens ABB stieg der 58-Jährige bis zum Schatzmeister auf. Bei 800 Mitarbeitern stand er nur eine Stufe unter dem örtlichen Finanzchef. Mit biederem Seitenscheitel, fliehendem Kinn und schwarz gedeckter Krawatte wird er im Mitarbeitermagazin auf einer ganzen Seite porträtiert – in seiner zweiten Position als Ombudsmann. „Wem kann ich mich bei Compliance-Angelegenheiten anvertrauen?“, lautet die Überschrift des Artikels. Mittlerweile liest sich das wie ein bitterböser Scherz.

Denn am 7. Februar erschien Herr Oh nicht mehr zur Arbeit. Als er auch am Folgetag unentschuldigt fernblieb, begannen Untersuchungen. Deren Ergebnis veröffentlichte ABB jetzt in einer Pressemitteilung: Oh Myeong-se, seit über 20 Jahren unbescholtener Angestellter, hatte unbemerkt Firmengelder im Wert von 30 Millionen Euro in seine eigenen Taschen abgezweigt. Nun fahndet Interpol nach dem biederen Herrn Oh.

„In den kommenden Wochen und Monaten müssen wir mit kritischer Berichterstattung rechnen“, schrieb ABB-Chef Ulrich Spiesshofer an seine Mitarbeiter. Wenn man bedenkt, dass die südkoreanische Filiale im 2015 rund eine halbe Mil­liar­de Umsatz generiert hat, ist es umso erstaunlicher, dass eine derart hohe Summe einfach verschwinden konnte.

Fest steht: Oh Myeong-se hat das Geld in 73 Transaktionen beiseite geschafft. Dafür muss der Schatzmeister nicht nur akribisch Bankbelege gefälscht, sondern auch mit Komplizen zusammengearbeitet haben. Ob es auch einen Maulwurf im Unternehmen gab, dazu ermittelt derzeit die koreanische Polizei.

Laut deren Angaben hat Herr Oh seine Ehefrau und zwei Kinder im Stich gelassen und sich nach Hongkong abgesetzt. Dass er die Banknoten in Koffern außer Landes gebracht hat, gilt als unwahrscheinlich, da zu riskant.

Der Fall von Oh Myeong-se mag in seiner Dimension spektakulär anmuten. Dabei gibt es auf unterster Ebene viele Herr Ohs in koreanischen Unternehmen: Veruntreuungen sind weiter verbreitet als das Kimchi am Mittagstisch. Fabian Kretschmer

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