Portrait Oskar Lafontaine: Außen radikal, innen Realist
Kein deutscher Politiker hat sich so oft neu erfunden. Mit Gespür für den richtigen Zeitpunkt und die richtige Tonlage. Mit großem Ego, aber nie als Betonkopf, für den ihn viele hielten.
Eigentlich sieht er ganz zufrieden mit sich aus. Dutzende Fotografen drängeln sich um ihn, Oskar Lafontaine lächelt, leicht ironisch, wie meist. Es ist Samstagmittag, der Raum im Karl-Liebknecht-Haus, der Zentrale der Linkspartei, ist zu klein für die vielen Journalisten. Gregor Gysi sitzt stumm neben Lafontaine im Blitzlichtgewitter und sieht, was selten passiert, traurig aus.
Mit regungsloser Miene hört er, dass Lafontaine sich "aus gesundheitlichen Gründen" aus der Bundespolitik zurückziehen werde. Lafontaine wird sein Bundestagsmandat zurückgeben und nicht mehr als Parteivorsitzender antreten. Der Krebs, sagt er, war ein "Warnschuss, den ich nicht mehr ignorieren konnte".
Er wird noch Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen machen, bleibt Fraktionschef im saarländischen Landtag und wird sich von dort in die Bundespolitik einmischen. Für manche in der Linkspartei mag das wie eine Drohung klingen. Aber das spielt im Moment keine große Rolle. Mit Lafontaine verliert die Linkspartei ihre Schlüsselfigur. "Ohne Oskar", sagt Gysi, "würde es die Linkspartei, so wie sie ist, nicht geben." Gysi hat alles dafür getan, um Lafontaine zu halten. Weil er fürchtet, dass die Partei noch zu unreif ist, um ohne ihren großen Vorsitzenden auszukommen. "Es tut weh", sagt Gysi.
Kein deutscher Politiker ist so spektakulär abgetreten wie Lafontaine. Und keiner so spektakulär zurückgekommen. 1990 lehnte er, nach dem Messerattentat auf ihn und der verlorenen Bundestagswahl, den SPD-Vorsitz ab, der damals noch viel wert war. 1999 trat er, zur Verblüffung auch enger Mitarbeiter, als Finanzminister und SPD-Vorsitzender zurück.
Denn Schröder und Fischer wollten mit Rot-Grün in die Mitte, Lafontaine nicht. Er wollte, zehn Jahre vor dem großen Crash, die Finanzmärkte regulieren. Die SPD tat genau das Gegenteil. "Dass die Aktienkurse und der Euro nach meinem Rücktritt nach oben schossen, ist das größte Kompliment, das ich als Politiker erfahren habe. Die haben mich ernst genommen", sagte Lafontaine später.
Sein Rücktritt 1999 war nur konsequent. In der Schröder- SPD wäre ihm nur die Rolle des linken Maskottchens geblieben. Damals hat das in der SPD niemand so gesehen. Viele haben ihn richtig gehasst, vor allem weil er auch den SPD-Vorsitz niederlegte. Außerdem hat Lafontaine seinen Rücktritt provokant inszeniert. Er schrieb eine knappe Nachricht an Schröder und tauchte tagelang einfach ab. Viele fanden das egozentrisch.
Persönliches: Geboren am 16. September 1943 in Saarlouis, 1962 Abitur an einem katholischen Internat, 1969 als Diplomphysiker, in dritter Ehe verheiratet mit Linke-Politikerin Christa Müller.
Erste Karriere: 1974 Bürgermeister von Saarbrücken, 1976 bis 1985 Oberbürgermeister, 1985 zum Ministerpräsidenten des Saarlands gewählt (und später zweimal wiedergewählt), 1990 unterlegener Kanzlerkandidat der SPD in der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl.
Erster Abgang: Nach der Wahlniederlage Verzicht auf den SPD-Vorsitz und Rückzug aus der Bundespolitik.
Erstes Comeback: 1995 auf dem Mannheimer Parteitag Putsch gegen SPD-Chef Scharping, Wahl zum SPD-Chef ("Glückauf, Genossen!").
Zweite Karriere: Mit Gerhard Schröder und Rudolf Scharping Bildung der SPD-Troika, nach rot-grünem Wahlsieg 1998 Finanzminister, Rücktritt als saarländischer Ministerpräsident.
Zweiter Abgang: 1999 Rücktritt von allen Ämtern ("schlechtes Mannschaftsspiel").
Dritte Karriere: 2005 Kovorsitzender der Linkspartei.
Auch diesmal hat Lafontaines langes Schweigen seine Partei irritiert, verstört und aufgebracht. Aber dies ist etwas anderes. Dies ist, so formuliert es Lafontaine am Samstag, die zweite "existenzielle Krise" in seinem Leben, nach dem Attentat 1990. Es geht um eine unberechenbare Krankheit. Es ist kein Abschied, den er gewählt hat.
Keiner hat so spektakuläre Comebacks inszeniert wie er. 1995 putschte er mit einer Rede gegen den damaligen SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping. Es war ein Moment, in dem schlaglichtartig sein Talent sichtbar wurde: Niemand sonst hätte es vermocht, die Mehrheitsverhältnisse auf einem Parteitag mit einer Rede zu ändern.
Lafontaine ist ein ein Volkstribun, der mit Worten verzaubern und einen Saal in Erregung versetzen kann; ein Narziss, dessen Stärke das Situative ist, nicht die lange Strecke. Meistens jedenfalls. Nach 1995 brachte er mit Geduld und Härte die zerstrittene SPD auf Vordermann. Er organisierte im Bundesrat eine Blockade gegen Schwarz-Gelb, die den Grundstein für den rot-grünen Sieg von 1998 bildete. Als SPD-Chef war er, abermals zur Verblüffung seiner Zeitgenossen, nüchtern, zielstrebig, integrativ. Bis er begriff, dass Schröder etwas ganz anderes wollte.
Lafontaine ist Physiker, jemand, der, wie Angela Merkel, nach dem Ergebnis fragt. Erzogen wurde er in einem Internat des Bischöflichen Konvikts, in dem jeden Morgen um fünf gebetet wurde. Das hat ihn geprägt. Seine drei Charakteristika - analytisches Denken, rhetorische Brillanz und ein sehr, sehr großes Ego - versteht man ohne Priesterausbildung und Physikstudium kaum.
Kein deutscher Politiker hat sich so oft neu erfunden wie er und so viele politische Haken geschlagen. In den Achtzigerjahren war er Sprachrohr der SPD-Linken, die gegen Helmut Schmidt rebellierte, und entschuldete effektiv das Saarland. In den Neunzigern verblüffte er mit der Forderung, die 35-Stunden Woche ohne Lohnausgleich einzuführen, was ihm bitteren Widerstand der Gewerkschaften bescherte.
Die SPD-Linke stieß er vor den Kopf, als er 1992 die Einschränkung des Asylrechts durchwinkte. Sein Wechsel zur Linkspartei verwunderte langjährige Weggefährten. Der saarländische SPD-Mann Reinhard Klimmt, der fast vierzig Jahre mit Lafontaine befreundet war, sagt: "Ich war doch immer der Linke, nicht Oskar."
Viele Medien haben Lafontaine als fundamentalistischen Betonkopf und grimmigen Ideologen gezeichnet - dieses Bild war immer schief und verzerrt - gewissermaßen das Negativ seiner eigenen Selbstinszenierung als Populist. Aber dahinter ist Lafontaine immer kühl rechnender Realist. Ein Machtpolitiker, mit einem sehr präzisen Gespür für den richtigen Zeitpunkt und die richtige Tonlage.
Als er im Jahr 2005 er auf die politische Bühne zurückkehrte, war dies der richtige, wahrscheinlich der einzig mögliche Moment. Schröder steuerte auf eine Niederlage bei der Bundestagwahl zu, ein paar tausend linke Sozialdemokraten ertrugen den Agendakurs nicht mehr. Lafontaine beschleunigte die Fusion von WASG und PDS zur Linkspartei.
Seitdem hat die Partei bei zwei Bundestagswahlen glänzend abgeschnitten und ist wider Erwarten in ein halbes Dutzend westdeutscher Landtage eingezogen. Selbstverständlich ist das nicht. In keinem anderen westeuropäischen Land gibt es eine annähernd erfolgreiche linkssozialdemokratische Partei.
Nach dem Crash der Finanzmärkte stimmte Lafontaines Linkspartei im Herbst dem eilig zusammengeschusterten Bankenrettungsgesetz zu. Lafontaine verzichtete weitgehend auf Rechthaberposen, zu denen er, der schon früh das Desaster hatte kommen sehen, allen Grund gehabt hätte. Doch um in der Krise nicht als Besserwisser zu erscheinen, dem die Angst der Leute wurscht ist, agiert er staatstragend und dosiert seine Angriffe.
Sogar manchen Ostpragmatikern war sein Kurs zu zahm - was sie allerdings nicht öffentlich kundtaten. Dass die Linkspartei die Angstschübe nach dem Finanzcrash schadlos überstand, ist vor allem Lafontaines Verdienst.
Vielleicht gibt es zwei unterschiedliche Politikertypen: Gründer, die Neues erfinden, und Verwalter, die das Neue verstetigen. Lafontaine zählt zu den Gründern, etwas zu Ende zu bringen ist nur bedingt seine Sache. Im Karl-Liebknecht-Haus gibt er der Linkspartei noch mal auf den Weg, was sie tun soll: Es ist das Mantra von raus aus Afghanistan, weg mit der Rente mit 67 und Hartz IV und der Forderung nach anständigen Löhnen.
In der Linkspartei spielt Lafontaine eine zwiespältige Rolle. Ohne ihn wäre diese rasante Aufstieg kaum möglich gewesen. Egal, wer ihm als Parteichef folgt und egal, wie gut er seine Sache macht - keiner hat Lafontaines Charisma oder sein polemisches Talent.
Andererseits hat er die Gräben in der Partei vertieft. Lafontaine und und die Linkspartei - das war immer so, als würde Michael Ballack in der Zweiten Liga spielen müssen. So hat er sich in der Partei nur mit Jasagern und Wasserträgern umgeben. Die eifrigsten Claqueure fanden sich auf dem linken Flügel im Westen, die ihn zum Objekt eines peinlichen Personenkults machten, der ihm, dem Eitlen, nicht unangenehm war.
Das Verhältnis zu den Pragmatikern im Osten ist indes gestört. Ein Grund sind politische Differenzen: Die Ostler sind kompromissbereiter, als Lafontaine es will. Aber die Schärfe der Auseinandersetzung, die in der Affäre um Geschäftsführer Dietmar Bartsch sichtbar wurde, hat andere Gründe - kleinteiligere, menschlichere.
Die Ostpragmatiker und Lafontaine - das ist auch die Geschichte eines Missverständnisses. Lafontaine ist die Ostidentität herzlich egal. Dieser blinde Fleck war schon 1990 bei der Vereinigung zu spüren. Die Vergangenheitsdebatte in der PDS interessierte ihn nicht die Bohne, deswegen hatte er auch keine Scheu vor der Kommunistischen Plattform.
Die Pragmatiker störten sich an seinen autoritären Ansagen. Außerdem haben sie die krachende, populistische Rhetorik für bare Münze genommen und übersehen, dass Lafontaine außen radikal und innen Realist ist. Und Lafontaine wollte nicht begreifen, dass die meisten beim "Forum demokratischer Sozialismus" gute linke Sozialdemokraten und Keynesianer sind. So wie er. Aber außer Gysi, sagen viele, hat er sowieso niemanden ernst genommen. Wahrscheinlich, sagt einer vom pragmatischen Flügel, "hätten wir mehr auf ihn zugehen sollen". Zu spät.
In den letzten Jahren hat Lafontaine daran gearbeitet, über Regierungsbeteiligungen, erst mal in Hessen und im Saarland, Einfluss im Bundesrat zu gewinnen. So wie in den späten Neunzigerjahren mit der SPD wollte er Stück für Stück Schwarz-Gelb lähmen und einen Machtwechsel vorbereiten. Das ist gescheitert - in Hessen an der SPD, im Saarland an den Grünen. Es war ohnehin viel Selbstüberschätzung in diesem Plan. Aber ohne Selbstüberschätzung wäre Lafontaine nie geworden, was er ist.
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