Porträts von Rineke Dijkstra in Berlin: Flüchtige Identitäten in achtzig Bildern
In der Berlinischen Galerie sind die Fotografien von Rineke Dijkstra zu sehen. Sie zeigen ein zärtliches und aufrührendes Portrait des Menschen.
![Eine Reihe Mödchen im Teenageralter stehen am sommerlichen Strand in Polen, gekleidet in Bikinis und Badeanzügen Eine Reihe Mödchen im Teenageralter stehen am sommerlichen Strand in Polen, gekleidet in Bikinis und Badeanzügen](https://taz.de/picture/7442180/14/Rineke-Dijkstra-Kolobrzeg-Poland-July-25-1992-Berlinische-Galerie-1-2.jpeg)
Alles fließt. Diese antike Weisheit weckt zugleich eine Urangst, denn sie besagt auch: Nichts ist von Dauer. Bilder versprechen, den Strom des Vergehens anzuhalten, indem sie ihren Motiven Beständigkeit verleihen. Vor allem Fotografie gilt als festhaltende Kunstform schlechthin. Die Arbeiten der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra jedoch zeigen keine zeitlosen Dokumente. Umgekehrt machen sie Zeit gnadenlos sichtbar. „Still – Moving. Portraits 1992 – 2024“, so heißt eine umfangreiche Retrospektive in der Berlinischen Galerie. Der mehrdeutige Titel charakterisiert ihr Werk vortrefflich, denn es changiert lebhaft zwischen Stillstellung und dramatischer Bewegung.
Im Mittelpunkt stehen Dijkstras Portraitserien, deren raffinierte Ideen über Konzeptkunst weit hinausgehen. Manche der Arbeiten begleiten Menschen über Jahre hinweg, andere halten das ganze Leben in einem einzigen, angespannten Augenblick fest. Die Zeitläufte werden so zum Protagonisten, wobei die Werkgruppen die vermeintliche Stabilität menschlicher Identität durchkreuzen.
So sehen wir einen jungen Mann am Tag seines Eintritts in die französische Fremdenlegion – vor und nach der obligatorischen Kopfrasur. Mehrfach lichtet Dijkstra ihn in den folgenden zwei Jahren ab. Binnen kurzem ist er kaum wiederzuerkennen, in seine weichen Gesichtszüge hat sich militärische Härte eingeprägt.
Oder wir begleiten ein Mädchen aus einer Asylunterkunft beim Älterwerden: Aus dem schüchternen Kind und der unsicheren Teenagerin wird sukzessive eine selbstbewusste Frau. Einschneidend die Geburt ihres Kindes, ein Motiv, das Dijkstra fasziniert. In anderen Portraits hält sie Frauen und ihre Neugeborenen unmittelbar nach der Entbindung fest, nackt und isoliert vor die Kamera gestellt. Strapazen sind ihnen anzusehen, zugleich Erleichterung, Liebe und Glück.
Rineke Dijkstra: „Still – Moving Portraits 1992–2024“, Berlinische Galerie, bis 10. Februar 2025
Selbsterkundungen der Kinder
Jede Geburt ist ein Neuanfang. Aber auch gewöhnlichere Augenblicke können etwas Neues in die Welt bringen. Auf ergreifende Weise zeigt eine Videoarbeit von 2009 britische Schulkinder bei der Betrachtung von Picassos Gemälde „Weeping Woman“. Anfangs zögerlich, ringen sie nach Worten, ihre Gesichter spiegeln die Mühe, das Gesehene zu begreifen. Doch irgendwann sprudeln ihre Gedanken hervor. Ängste und Verunsicherung hört man, aber auch ihr Staunen und abenteuerliche Assoziationen. Die Deutungsversuche der Kinder muten wie Selbsterkundungen an: ästhetische Einsichten mit – so hofft man – fortdauernder Wirkung.
Zu den wohl bekanntesten Arbeiten Dijkstras zählt ihre Strand-Serie. Seit den 1990ern fotografiert sie Heranwachsende an Küsten weltweit, darunter auch in Odessa. Unwillkürlich drängt sich beim Anblick der Bilder aus der Ukraine die Frage auf, was in Zeiten des russischen Angriffskriegs wohl aus jenen Kindern und Jugendlichen geworden ist. Allerdings wirken die Modelle schon im Augenblick des Ablichtens keineswegs unbeschwert. Bereits den Jüngsten ist anzusehen, dass sie mit ihren Körperbildern hadern. Gleichzeitig aber sind diese Bilder weit mehr als Kritik am Körperkult. Kunstvoll spielen Blicke und Posen, Badekleidung, Sand und Beton sowie die Färbungen von Meer und Himmel zusammen. Man sieht die Aufnahmen lange an, lässt den Blick zum unscharfen Horizont schweifen. Fast so, als läge man selbst am Strand.
Ihre Sogwirkung verdanken die Bilder einer außergewöhnlichen Technik. Dijkstra fotografiert mit Großformat-Plattenkamera, mit der sie ihre Modelle frontal aufnimmt. Der Blick ins Objektiv erfordert von den Modellen besondere Konzentration, denn die Fotografin steht neben ihrem Gerät. Zudem setzt sie auch am Tag Blitzlicht ein, was die Motive dezent entrückt. Auf diese Weise entstehen Fotografien von erstaunlicher Detailgenauigkeit mit einer minutiös durchdachten Komposition. Allein schon deshalb sind es keine alltäglichen Augenblicke, sondern artifizielle Situationen. Etwas von dieser Künstlichkeit sickert in den Ausdruck der Modelle ein. Ihre Haltung scheint selten natürlich, bisweilen eher skulptural. Das Geschehen findet oft unter freiem Himmel statt, wodurch keine intime Stimmung aufkommt. Auch die Modelle inszenieren sich selbst wie Stars und schlüpfen in ungewohnte Rollen, was Charakterzüge enthüllt, die sonst verborgen blieben.
Gleichwohl zeigt sich Dijkstra weniger am Künstlichen als vielmehr am ganz normalen Leben interessiert. Mit diesem inszenierten Realismus stehen Dijkstras Arbeiten in der Tradition von Vermeer und einem authentischen Interesse an sozialer Wirklichkeit. Privates wird auf die öffentliche Bühne der Kunst gehoben. Damit wird es aber nicht nur zum Politikum, denn vordergründig politisch sind Dijkstras Arbeiten freilich nicht. Was die Bilder einfangen und inszenieren, reicht tiefer: alltägliches Leben, das in den Bildern weiterlebt. Die Biografien der abgebildeten Personen verdichten sich zu fotografischen Augenblicken. Zahllose Erinnerungen und Erwartungen zeichnen einen jeden Menschen, ob bewusst oder unbewusst. Gerade das Unbewusste kann die Fotografie sichtbar machen.
![Ein Mädchen, ca. 5 Jahre alt, sitzt auf einem Stuhl. Sie ist fein gekleidet, sitzt diszipliniert, schaut aber unsicher in die Kamera Ein Mädchen, ca. 5 Jahre alt, sitzt auf einem Stuhl. Sie ist fein gekleidet, sitzt diszipliniert, schaut aber unsicher in die Kamera](https://taz.de/picture/7442180/14/Rineke-Dijkstra-Almerisa-Asylumcenter-Leiden-March-14-1994-Berlinische-Galerie-1.jpeg)
Panzer der Coolness
Gemessen am echten Leben erscheinen Fotografien trotz alledem als eine ungeheuerliche Reduktion, die entscheidende Details missen lässt. Die im Abendlicht glitzernden Meeresoberflächen aus Dijkstras Strand-Serie mögen zunächst sogar schöner erscheinen als der Anblick des realen Meeres, wenn die Aufnahme geschickt eine unansehnliche Umgebung ausblendet. Aber es fehlen doch Seeluft und das Wellenrauschen, Möwenrufe und der Trubel anderer Strandbesucher. Eine Enttäuschung, denn die Sehnsucht nach dieser Lebensfülle können Fotos nicht befriedigen.
Die Lücke zwischen Bild und Wirklichkeit enttäuscht aber nicht nur den Blick. Sie reichert ihn auch an. Besonders eindrücklich gelingt das Dijkstra in ihren Club-Aufnahmen aus Liverpool. Jugendliche haben sich hier zum Ausgehen herausgeputzt. Im nüchternen Blick der Kamera schimmert unter dem Panzer ihrer Coolness Unsicherheit, aber auch etwas Unfertiges durch. Noch ist nicht entschieden, wer oder was aus ihnen werden wird. Im Raum hinter diesen Fotos zeigt die Berlinische Galerie Video-Loops, die ebenfalls zur Serie gehören. Hier sieht man die Jugendlichen beim Tanzen. Mehrfach bewegen sie sich zum selben Track, ein flüchtiges Spiel zwischen Anpassung und Abweichung.
Dijkstras so still und inszeniert daherkommende Arbeiten bringen die Klischees unseres Alltagsverstands ins Wanken. Gehört die Identität einer Person zum modernen Selbstverständnis – nur wenn wir dieselbe Person bleiben, gelten wir als geschäfts-, rechts- und sozialfähig –, so zeigen uns diese Bilder, dass kein Mensch ein statisches Wesen ist. Vielmehr sind wir allesamt Prozesse. Dijkstra visualisiert diese Transformationen mit analytischer Prägnanz. Das lässt uns unser Gegenüber mit anderen Augen sehen, mit einem Blick, der begreifen möchte und der nicht einverstanden ist, sondern irritiert. Ein gereiztes Auge jedoch verlangt nach Augentropfen – oder aber danach, zu beheben, was die Irritation auslöste.
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