Porträt Philipp Rösler: Der Segelflieger an der Macht
Der Ehrgeiz, es allen zu zeigen, überwog die Zögerlichkeit. So wird das Adoptivkind aus Vietnam, höflich, zuvorkommend, funktonierend, neuer Vizekanzler.
Drei Zentimeter dickes Plexiglas. Verarbeitet zu einer kapselförmigen Haube. Darüber: Märzhimmel, Wolken, darunter: Porta Westfalica. Minden, das Schloss der Kleinstadt Bückeburg, Einfamilienhäuser. Ackerland. Niedersächsische Bescheidenheit, betrachtet aus 400 Metern Höhe. Was surrt, ist der Wind, manchmal kommt ein Piepsen hinzu, das bedeutet, dass das Segelflugzeug höher steigt. Ansonsten Stille.
Ein perfekter Ort des Rückzugs. Und der Besinnung. Sein Ort, über Jahre. Bald jedes Wochenende hat Philipp Rösler als Jugendlicher Ende der 80er Jahre beim Luftsportverein Bückeburg verbracht. Hier durfte er schon mit 14 allein am Himmel rumkurven, während die Kumpel auf der Erde noch glaubten, die Freiheit sei ein Mofa. Hier konnte er hinabblicken auf seine Heimat Südniedersachsen.
Eine Heimat, in die er als südvietnamesisches Kriegswaisenbaby mit neun Monaten, elf Pfund Körpergewicht und Hospitalismusschäden Ende 1973 ausgeflogen worden war, in einem Motorjet, gechartert von Terre des Hommes. Hier entwickelte er, das namenlose vietnamesische Adoptivkind, das fortan Philipp Rösler hieß und aufgenommen wurde von einer Krankenschwester und einem Berufssoldaten mit zwei leiblichen Töchtern, seine Identität. Deren Faszinosum tut er bis heute, mit 38 Jahren und als designierter FDP-Parteichef auf dem Höhepunkt einer ungewöhnlichen deutschen Politikerkarriere, als eine Frage des Blickwinkels ab: "Wenn ich rausgucke aus meinen Augen, dann sehen die Menschen ganz normal aus, nur wenn man mich anguckt, dann sehe ich asiatisch aus."
Aber nun wird Philipp Rösler, ein Deutscher mit vietnamesischen Wurzeln, Vizekanzler der Berliner Republik. Vielleicht brauchte es eine liberale Partei, um eine solche Karriere zu ermöglichen.
Allein kommt keiner in die Luft
Segelflieger sind Teamplayer. Sie müssen es sein, allein kommt keiner in die Luft. Man braucht fünf, sechs Leute, um das Flugzeug aus der Halle an den Start zu schieben. Jemand muss sich kümmern um die Seilwinde, mit deren Hilfe das Flugzeug in die Luft gezogen wird, ein anderer prüfen, ob die Tragflächen im richtigen Winkel stecken, wieder ein anderer die Funkverbindung halten. So eine Vorbereitung kann Stunden in Anspruch nehmen. Aber dann, wenn das Seil sich ausgeklinkt hat, wenn das Flugzeug zum Steilflug ansetzt, wenn es nur noch ankommt auf Thermik, Wolken und Wind, dann ist man allein. "Dann gibt es nur 100 Prozent", sagt Thilo Zahn.
Zahn, 47 Jahre, Wirtschaftsberater, Segelfluglehrer, hat Philipp Rösler das Fliegen beigebracht damals. Er steht jetzt wieder am Boden auf dem Bückeburger Flugplatz, er sagt: "Philipp." Er war einer seiner Besten. "Emsig, zielstrebig, diszipliniert, pünktlich, verlässlich", er muss nicht lange überlegen. Nur über sich selbst habe er selten geredet - und die wenigsten fragten nach. "Philipp war einer, der nie aus dem Ruder lief." Einer, der höflich und zuvorkommend war. Früh Verantwortung übernahm. Und ansonsten die wichtigen Dinge im Leben mit sich selbst ausmachte.
Aus welchem Land genau und weshalb er adoptiert worden war, wussten nur wenige. Von Philipp Röslers späterer Mitgliedschaft bei den Liberalen erfuhren viele im Verein erst, als Röslers Konterfei ihnen von Plakaten entgegenlächelte, als Generalsekretär der FDP Niedersachsen, als Landtagsfraktionschef, als niedersächsischer Wirtschaftsminister, es ging ja stets steil bergauf mit ihm. Verübelt haben ihm das nicht mal politisch Andersdenkende. Weil er nie aneckte. So sehr auf Harmonie und Konsens aus war, dass oft unklar blieb, wofür er eigentlich stand - außer für sich selbst. Aber eben immer funktionierte.
Wie er auch jetzt funktioniert. Die FDP hat es geschafft, binnen eineinhalb Jahren an der Macht sich in Auftritt und Handeln als Truppe zu stilisieren, die gerade ein Stück namens "Wählerbeschimpfung" aufzuführen scheint. Sie hat deswegen desaströse Landtagswahlergebnisse eingefahren, und das Superwahljahr 2011 ist noch gar nicht vorbei. Seit Monaten irrt die Partei ziel- und konzeptionslos umher, seit Sonntagabend auch noch führungslos. Es gibt günstigere Ausgangslagen, einen Parteivorsitz zu übernehmen.
Er greift sich die innere Freiheit
Andererseits hat Philipp Rösler erfahren, zuletzt als Bundesgesundheitsminister, dass ein Spitzenjob durchaus Spaß machen kann, selbst wenn der Amtsinhaber unbeliebt ist. "Wenn Sie sowieso wissen, dass Sie bei jeder Ihrer Entscheidungen kritisiert werden, dann laufen Sie auch nicht mehr Gefahr, überhaupt auch nur den Versuch zu machen, anderen hinterherlaufen zu wollen", verriet er sichtlich entspannt im vorigen Spätherbst, auf dem Höhepunkt der Kritik an seiner Gesundheitsreform. "Sondern Sie können endlich das tun, was Sie für richtig halten, und das gibt Ihnen, wenn Sie das begreifen, eine innere Freiheit."
Die innere Freiheit. Philipp Rösler greift sie sich jetzt erneut, wenn auch mehr aus der Pflicht heraus denn aus wirklicher Lust an dem Amt. Noch im Winter, als Guido Westerwelle schon einmal wackelte und Rösler, Shootingstar der Partei, Arzt, Sanitätsoffizier und Bauchredner in einer Person, exzellenter freier Redner und Exot aufgrund seines Aussehens sowieso, dazu einst jüngster Minister im Kabinett Merkel und mit winzigen Zwillingsmädchen daheim in Hannover sowie Vorlieben für Lakritze, Udo Jürgens und McDonalds, als er also im Gespräch für die Nachfolge war, redete er sich damit heraus, sein Amt des Bundesgesundheitsministers sei "nicht vereinbar" mit dem Parteivorsitz. Der Gedanke dahinter war: Westerwelle sollte die Niederlagen allein verantworten müssen. Seine Zöglinge Daniel Bahr, 34, Staatssekretär im Gesundheitsministerium, Christian Lindner, 32, Generalsekretär der Partei, und Philipp Rösler, 38, wollten sich derweil in Stellung bringen. Und erst dann das Ruder übernehmen, wenn gesichert wäre, dass sie unbeschädigt aus der Affäre herauskämen, was nicht ganz risikolos schien: immerhin sind sie alle jahrelang von Westerwelle gefördert worden. Das war der Plan. Er ist nicht aufgegangen.
Also stellt sich Rösler jetzt vor die Mikrofone und sagt Sachen wie: "Die FDP muss verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen." Oder auch: "Wir müssen uns wieder mehr um die Lebenswirklichkeit der Menschen kümmern." Es soll mutig klingen und nach Aufbruch. So als wäre damit bereits ein Schritt getan in Richtung inhaltliche und strategische Erneuerung, die jetzt alle fordern.
Mances kam früher als bei anderen
Manche in der Partei betrachten diese Entwicklung mit Sorge. "Es würde ihm helfen, wenn er mehr Erfahrung sammeln kann, als aus dem Sprung diese Position einzunehmen", sagt sein politischer Ziehvater Walter Hirche, ehemals niedersächsischer Wirtschaftsminister. Andererseits kam manches im Leben von Philipp Rösler früher als bei anderen. Vielleicht auch deswegen, weil der Ehrgeiz, zu bestehen, bei ihm die Zögerlichkeit überwog. Und das, vermutet Hirche, könnte auch mit seiner Herkunft zu tun haben: "Ich könnte mir vorstellen, dass seine extrem höfliche Art des Umgangs damit zusammenhängt, dass er einfach nicht den robusten Auftritt haben kann wie jemand, der ausschließlich hier aufgewachsen ist und sich nie die - möglicherweise auch verunsichernden - Fragen nach den Wurzeln stellen musste."
Mit vier Jahren erlebt Philipp Rösler einen zweiten emotionalen Verlust. Seine Adoptiveltern trennen sich. Und wählen bei der Aufteilung der Kinder die quasi militärische Lösung: Die beiden älteren, leiblichen Töchter gehen mit der Mutter, das Adoptivkind bleibt bei dem Vater, einem für die 70er Jahre ungewöhnlichen Berufssoldaten und Bundeswehrpiloten: Uwe Rösler ist damals SPD-Mitglied und bekennender Vietnamkriegsgegner. Gerade deswegen war die Wahl des Adoptivkinds ja auch auf einen Kriegswaisen gefallen. Bei einer militärischen Fortbildung 1972 in den USA hatte Uwe Rösler südvietnamesische Kampfpiloten kennengelernt. Philipp Rösler wächst fortan auch in der Bundeswehrkantine auf.
Und das alles soll keine Spuren hinterlassen haben? Es ist nicht leicht, mit Philipp Rösler über diese sehr privaten Dinge zu sprechen. Er, der in Reden gern mit seiner vietnamesischen Herkunft kokettiert, für Vergleiche stets asiatische Sprichwörter heranzieht und bei öffentlichen Auftritten keine Gelegenheit auslässt, scherzhaft darauf hinzuweisen, er komme "ein bisschen weiter aus dem Süden", nämlich aus Bückeburg, wird wortkarg, wenn er sagen soll, inwiefern seine Kindheit, das Nichtwissen um die leiblichen Eltern und die Zerrissenheit der Ziehfamilie seinen persönlichen wie politischen Kompass geprägt haben. "Mir hat nie etwas gefehlt", sagt er bloß, "ich hatte nie das Gefühl, mir würde eine Mutter fehlen oder leibliche Eltern." Er klingt beinahe trotzig. "Dankbar" sei er seinem Adoptivvater, seinem Vorbild, "sehr, sehr dankbar". Auch politisch. Noch heute berate er sich mit ihm. Inzwischen sei der Vater ihm ja auch in die FDP gefolgt.
"Deutscher als Sie und ich zusammen"
Aber Konflikte? Vorwürfe gar, ihn, das Adoptivkind, aus seinem Kulturkreis herausgeholt und damit auch Diskriminierungen ausgesetzt zu haben? Ihn mit dem Wunsch, ein Kriegskind zu retten, zugleich um das Wissen um die eigene Identität gebracht zu haben? Hat es nicht gegeben, niemals, beteuert Philipp Rösler. "Wenn Sie allein großgezogen werden, werden Sie früh zur Selbstständigkeit erzogen, einfach aus Zeitgründen. Insofern stehen Sie nicht im Zwang, sich abkapseln zu müssen. Ich hatte schon sehr früh die Freiheit, die andere sich erst in der Pubertät erkämpfen müssen."
Nach Vietnam reist er erstmals 2006 - auf Drängen seiner Frau. Das katholische Waisenhaus und die Nonnen, bei denen er seine ersten Lebensmonate verbracht hat und die möglicherweise Hinweise auf seine leibliche Familie haben könnten, besucht er nicht. Es habe sich nicht ergeben, wird er später sagen. "Philipp", sagt der Vater eines Jugendfreundes, "hat sich sehr bewusst nie darum gekümmert. Er ist wahrscheinlich deutscher als Sie und ich zusammen".
Und nun also das Ringen um Halt und Haltung innerhalb der eigenen Partei. Verlorene Glaubwürdigkeit wiederherstellen? Sich kümmern um die Lebenswirklichkeit der Menschen? Philipp Rösler hätte als Bundesgesundheitsminister eineinhalb Jahre Gelegenheit gehabt, diese Baustellen in Angriff zu nehmen. Kein Minister im Kabinett könnte näher dran sein an den Menschen, ihrer größten Sorge und höchstem Gut zugleich, der Gesundheit. Keiner könnte, wenn er denn wollte, auch durch finanzielle Umschichtungen innerhalb des Systems stärkere inhaltliche Akzente setzen zugunsten der Lebenswirklichkeit großer Teile der Bevölkerung - bei der Gesundheit geht es immer gleich um Milliardenbeträge.
Es ist ein Drahtseilakt, sicher, aber Philipp Rösler hat ihn nicht einmal ansatzweise gewagt. Seine zusammengefrickelten, unausgegoren wirkenden Finanzpläne und -reformen bedeuteten für die Mehrheit der Versicherten eine Verschlechterung der Lebenswirklichkeit; mehrere Gipfel zur Reform der Pflegeversicherung hinterließen den Eindruck konsequenzloser Plauderstündchen beim Minister. Fehlendes Herzblut, eine rein pragmatische Herangehensweise an Politik - verstärkt wurde dieser Eindruck durch seine wiederholte Aussage, mit 45 sei Schluss für ihn in der Politik.
Er will Macht, nicht Mitgefühl
An einem Dezembermorgen 2010 sitzt Philipp Rösler, lila Krawatte, weißes Hemd, schwarzer Anzug, aufgeräumt im Bundesrat und lässt sich von den Vertretern der oppositionellen Bundesländer für seine Finanzreform der gesetzlichen Krankenversicherung beschimpfen. Das "Solidarsystem" habe er abgeschafft, den "Systemwechsel" mit der "Einführung der Kopfpauschale durch die Hintertür" vollzogen, die "Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland zementiert", Gesundheit "zu einer Frage des Geldbeutels" gemacht. Philipp Rösler blickt freundlich-ratlos drein. Hat er das alles nicht immer angekündigt? Ist es vielleicht seine Schuld, wenn der Rest der Koalition wie der Opposition ihm einfach nicht glauben wollte, ihn erst belächelte, dann öffentlich vorführte und mit permanentem Störfeuer demütigte, in dem ernsthaften Glauben, ihn auf diese Art von seinen Plänen abbringen zu können? "Vielleicht fanden ja einige, der Gesundheitsminister sei noch zu jung, und mit Migrationshintergrund könne man sowieso keinen Systemwechsel einleiten", sagt Rösler. Er aber hat sich jeden Angriff gemerkt, jede Respektlosigkeit, jeden Redner. Philipp Rösler ist nachtragend. Was er jetzt sagt, kommt einer Drohung gleich: "Manchmal hat es auch Vorteile, wenn man unterschätzt wird." Er will schließlich Macht. Nicht Mitgefühl.
Um die persönliche Bedeutung dieses Unterschieds für Philipp Rösler zu verstehen, muss man den Mann suchen, der ihn am besten kennt. Seinen Vater. Man findet ihn in Hannover, einen Mann mit norddeutschem Akzent und jungenhafter Stimme, der auf die 70 zugeht und glasklar denkt. "An dem Philipp werden sich noch manche die Zähne ausbeißen", er lacht laut ins Telefon, es amüsiert ihn, wenn Medien von ihm ein Orakel erwarten, wohin es politisch noch gehen könne mit seinem Sohn. "Bei Kanzler hört's auf, aber nur wegen des Aussehens", er lacht weiter, "oder glauben Sie, Deutschland sei schon so weit?"
Dann wird er ernst. "Der Philipp ist ein Individualist, schon immer gewesen", und er, Uwe Rösler, sein Seelenverwandter, habe ihn zur Eigenverantwortung erzogen. "Dazu gehört natürlich auch, dass man dann nicht nur jammert, wenn man etwas verändern möchte, sondern auch mal einen dieser Jobs auf Zeit macht." Gesundheitsminister, Parteichef. Jobs auf Zeit. Er sagt das wirklich so.
Geschichte ohne Grautöne
Und dann erzählt er eine Geschichte. Es ist die Geschichte der politischen Initiierung seines Sohns, eine Geschichte, die auch Philipp Rösler gern erzählt: Es war das Jahr 1992, und einer seiner Lehrer war für die Republikaner in den Stadtrat von Hannover eingezogen. Als Schulsprecher machte Rösler sich daraufhin für seinen Rücktritt vom Amt des Vertrauenslehrers stark - mit Erfolg. Noch im gleichen Jahr trat er in die FDP ein. Es ist eine Geschichte ohne Grautöne, eine vom Helden und vom Bösewicht, und wenn Philipp Rösler sie erzählt, dann endet sie an dieser Stelle.
Uwe Röslers Geschichte geht weiter. Sie beschreibt den Auslöser, die Motivation für diese viel gelobte Form der Zivilcourage. Das Image der Schule retten? Gefahren von der Gesamtheit der Schüler und Lehrer abwenden? Seiner Verantwortung als Schülersprecher nachkommen? Ach was. "Es war das erste Mal, dass Philipp bewusst dachte, Mensch, du siehst ja auch anders aus. Wenn Typen wie dieser Lehrer Macht bekommen: was passiert dann eigentlich - mit dir?"
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