Pornografisierung des Pop: Geschminkte Stimmen
Ungeschminkte Natürlichkeit, das ist heute die Perversion. In Pop wie Porno. Der Siegeszug des Autotune-Stimmeneffekts ist ein Indiz für die Pornografisierung des Pop.
Am 3.Oktober 2009 schließt sich der Kreis bei "Wetten, dass…?". Tokio Hotel präsentieren dem Samstagabendpublikum ihre neue Single "Automatisch". Darin verwenden sie einen Effekt, der die Stimme von Bill Kaulitz alienartig verfremdet. Sie klingt, nun ja, automatisch.
Elf Jahre davor hatte Cher an gleicher Stelle den Autotune-Effekt zum ersten Mal im deutschen Fernsehen vorgeführt. "Believe", der Popsong mit der metallisch gefärbten Stimme, bescherte der Sängerin mit dem chirurgisch wie kosmetisch vielfach getunten Körper ein spätes Comeback.
Tokio Hotel bei Gottschalk mit Autotune, das ist Wasser auf die Mühlen der Autotune-Hasser. Davon gibt es eine Menge. Denn Autotune ist zwar unsichtbar, aber dennoch überall. Wer heute junge Popwellen hört, kommt um den Verfremdungseffekt nicht herum.
Die hörbare elektronische Bearbeitung der menschlichen Stimme ist im aktuellen Pop so verbreitet und so gängig wie die sichtbare chirurgische Bearbeitung des Körpers in der aktuellen Pornografie. In beiden Feldern hat sich das Verhältnis von Norm und Abweichung umgekehrt. Im Pop ist die elektronisch manipulierte Stimme die Regel, die unbearbeitete, natürliche Stimme die Ausnahme. In der Pornografie ist der chirurgisch manipulierte (Frauen-)Körper die Regel, der unbearbeitete, natürliche Körper die Ausnahme.
Das ehedem Perverse
In der Mainstream-Pornografie geht diese Umkehrung so weit, dass es eine eigene Gattung für Freunde unbearbeiteter Körper gibt. Wer sich für implantatfreie Brüste interessiert, entscheidet sich auf dem Pornomarkt für die Kategorie "natural". Natürlich ist demzufolge eine sexuelle Spezialität im nach Spezialinteressen sortierten Warenangebot. Eine Spezialität unter vielen: wie Sado-Maso, Fäkal, Orgie oder Interracial. Oder "behaart". Unter dieser Kategorie ficken unrasierte Körper.
Diesen Text und viele andere mehr lesen Sie in der sonntaz vom 26./27. Juni 2010 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk.
Das Natürliche wird in die Nische verdrängt, eine von vielen Spezialvarianten. Eine bemerkenswerte Verschiebung: Das ehedem Perverse, der bearbeitete Körper, wird zur Norm, das ehedem Normale, der unbearbeitete Körper, wird zum Perversen. Von Brasilien über China bis Russland: in vielen Ländern der Erde gehören sogenannte Schönheitsoperationen inzwischen zur gesellschaftlichen Norm. Chirurgische Eingriffe sind nicht mehr Notoperationen an fehlerhaften Körpern, sie sind routinemäßige Maßnahmen im Zuge der Selbstoptimierung im neoliberalen Wettbewerb. Und sie dienen dem persönlichen Prestige. Weiterbilden, Kurse belegen, Technologien aneignen, Sprachen lernen, Körper optimieren - Imperative des digitalen Kapitalismus. In China werden in bestimmten Berufen Mindestgrößen vorgeschrieben. Also lassen sich Menschen künstlich ihre Beine verlängern. Dazu müssen sie erst mal gebrochen werden. Ohne Schmerz kein Preis.
Im Pop des 21. Jahrhunderts ist die unbearbeitete Stimme die Ausnahme, die Perversion. Der US-Autor und -Musiker Jace Clayton alias DJ Rupture behauptet, dass Autotune bei 90 Prozent der aktuellen Popmusik zum Einsatz kommt, dass also "das wichtigste musikalische Gerät der letzten zehn Jahre kein Instrument ist und kein physisches Objekt, sondern eine Software".
Das passt zum Verschwinden des physischen Tonträgers. Wie schon häufiger in der Geschichte wird eine neue Technologie zum Erfolg, wenn sie gegen die Gebrauchsanweisung eingesetzt wird. Das ist im Pop nicht anders als im Krieg. Eigentlich dient Autotune der Perfektionierung von Stimmen. Unebenheiten werden elektronisch ausgeglichen, Misstöne geglättet, Fehler korrigiert. So weit, so normal. Dann entdeckt jemand den Reiz der Übertreibung: das metallisch roboterhafte Flirren, Sirren, Summen auf der Stimme bekommt eine eigene Faszination, das Unsichtbare, Ungreifbare nimmt haptische Gestalt an.
Eine besondere Qualität von Autotune: die Stimme wird übergeschlechtlich. Und farbenblind. Mit Autotune können sogenannte natürliche Eigenschaften der Stimme außer Kraft gesetzt werden und damit die tradierte Zuordnungslogik einer nach Rasse und Geschlecht segregierten Popwelt. Autotune hebt die Stimme auf eine neue Ebene. Man weiß nicht mehr, wo einem der Kehlkopf steht. Singt da ein schwarzer Mann, eine weiße Frau oder doch der Dackel von Elton John?
Die größten Triumphe feiert Autotune im HipHop, R&B und Dancehall Reggae - ausgerechnet in Bastionen traditioneller Geschlechterverhältnisse. In keinem Pop-Mileu der Gegenwart ist Hetero normaler und Queer fragwürdiger, abgesehen vom steinalten Hardrock. So gesehen ist es erstaunlich, dass virile und omnipotent daherkommende Figuren wie der Rapper Lil Wayne und der Dancehall-Künstler Busy Signal ihren Erfolg maßgeblich dem Einsatz der neuen Software verdanken.
Der König des Autotune ist allerdings ein neuer Typus im R&B- und HipHop-Zirkus. T-Pain, der knuddelige R&B-Sänger mit den Dreadlocks, lässt in der Tradition von Teddy Pendergrass und Luther Vandross das Schlafzimmerfach wiederaufleben. Er singt für die Ladys und versucht nicht weniger als die historische Versöhnung von Sex und Liebe - die hatten sich ja vor allem im sexploitativen HipHop stark auseinandergelebt. Ohne eine gewisse Nähe zur Sexindustrie kommt auch T-Pain nicht aus, wenn er verkündet: "Im in luv wit a Stripper". Aber mit seinem brünftigen Autotune-Gurren gibt er mehr den gutmütigen Helfer als den ausbeutenden Hustler. Um Sex aus Liebe geht es auch in "Studio Luv". Im Video-Clip ist das Tonstudio Schauplatz der Liebesszene und gleichermaßen technischer Genussverstärker. Wie von Geisterhand bewegen sich die Regler übers Mischpult, via Autotune verschmelzen die Klangkörper zu einem übergeschlechtlichen (oder vorgeschlechtlichen?) Liebesakt.
Das hat in seiner technophilen Freude am Spielzeug auch angenehm regressive Züge. In den USA ist Autotune inzwischen ein Partyspiel, dank der "I Am T-Pain" - Auto-Tune iPhone App. Wie die funktioniert, das zeigt T-Pain in einem Clip mit seinem Präsidenten. Im Stile von Woody Allens Zelig-Figur beamt sich T-Pain in Szenen aus dem politischen Alltag, hält Barack Obama sein iPhone vor den Mund und schon mutiert der gravitätische Präsidenten-Bariton zum metrosexuellen Singsang. Autotune queert Obama. "Vocal purists hate Auto-Tune", stellt Jace Clayton fest. Stimmpuristen hassen den Effekt: roboterhaft, künstlich, substanzlos, dekadent. Emotionale Magersucht.
Was man einem Effekt so vorhält. Vor allem, dass er ist, was er ist: Effekt. Expliziter Widerstand gegen Autotune regt sich im HipHop seit 2009. In seinem Track "Robot" klagt KRS One, dass keiner mehr ohne Autotune singt oder rappt, "the best to do it was Roger Troutman". Damit bekennt sich der angesehene Kopf von Boogie Down Productions zur ganz alten Schule.
Roger Troutman hat in den 70ern seine Stimme durch eine Talkbox geschickt - ein analoger Vorläufer des Autotune-Effekts - und ihr damit diese Alienhaftigkeit eingehaucht, Markenzeichen seiner Space-Funk-Band Zapp. Aber Zapp gegen Lil Wayne ausspielen? Das hat was von den Folkpuristen, die 1965 Bob Dylan den Strom abstellen wollten, weil eine elektrische Gitarre gegen das Reinheitsgebot der Folktradition verstößt. Auch der (ein- fluss-) reichste Rapper der Gegenwart wettert gegen die neue Technologie. Jay-Z wünscht sich den "Death Of Autotune" und macht den gleichnamigen Song sogar zur ersten Single seines letzten Albums, ein Indiz für die Aufgeladenheit des Themas.
Autotune wird nicht mehr verschämt als Camouflage stimmlicher Mängel eingesetzt, sondern offensiv als schmückendes Accessoire. Wer es sich leisten kann, benutzt es als unsichtbare Body-Extension, als elektronisches Pendant zum im HipHop und R&B demonstrativ getragenen Goldschmuck. Software-Bling. Geschminkte Stimme. Die Technologie dient nicht nur der Selbstoptimierung, wie Kritiker behaupten. Sie ist auch ein Spielzeug. Wie Photoshop. Ich kann mein Äußeres per Mausklick verändern? Warum nicht? Ich kann meine Stimme per Mausklick verändern? Klar. Wenn Männer sich schminken, geraten sie unter Schwulenverdacht.
Wenn sich Alphamänner wie Jay-Z und KRS-One mit viriler Vehemenz gegen Autotune ins Zeug legen, dann ist eine alte Männlichkeit bedroht. Eine Männlichkeit, die sich von androgynen Wesen wie Tokio Hotel bedroht fühlt und sie dafür hasst. Wer alt genug ist, kann hier eine Neuauflage der unverhohlen homophoben Authentizitätsdebatten der frühen Achtziger erkennen. Punkrocker gegen Synthiepopper. Modern Talking wurden damals von rockistischen Echtheitsfanatikern gehasst. Weniger wegen Bohlens Proll-Sozialdarwinismus als wegen der "sonnengegerbten Sangesschwuchtel". Thomas Anders, die mit dem Nora-Kettchen. Männer, die ins Sonnenstudio gehen, greifen auch zu Autotune.
Zeitgleich mit Tokio Hotels "Automatisch" erschien im Oktober 2009 "Five Years Of Hyperdub". Das Geburtstags-Album des Londoner Dubstep/Elektro-Labels enthält einige Tracks, die noch mal daran erinnern, dass nicht die Technologie böse ist, sondern allenfalls die Leute, die sie ge- oder missbrauchen. Einer dieser Tracks ist von Burial. Der zeigt, wie man mit Autotune in den Himmel kommt.
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