Popmusik aus Venezuela: Rückkopplungen aus der Diaspora
Wer von Venezuala redet, redet von Krisen. Hier blicken wir auf die kreativen Musiker*innen des Landes und ihren vielfältigen Sound.
Was fällt Ihnen spontan zu Venezuela ein? Vermutlich populistische Politiker wie Hugo Chávez und Nicolás Maduro oder Begriffe wie Misswirtschaft und Flucht. Migrierte „Venecos“, wie Venezolaner*innen in den Nachbarstaaten abschätzig genannt werden, gelten dort als Inbegriff allen Übels.
In den USA reicht es dagegen schon aus, den falschen Pass zu haben und tätowiert zu sein, um der berüchtigten Tren-de-Aragua-Gang zugerechnet zu werden und als Venezolaner in einem salvadorianischen Gefängnis zu landen.
Die Liste negativer Zuschreibungen ließe sich verlängern. Nur was ist mit den schönen Dingen des großen Landes im Norden Lateinamerikas zwischen der Karibik, den Anden und Amazonien? Haben Sie vielleicht schon einmal vom im 6/8-Takt gespielten Folk-Genre Joropo aus dem Hochland gehört oder von der Fiesta de San Juan, einem ausgelassenen, synkretistischen Tanzfest am 24. Juni, das einst von Sklaven auf den Kakao- und Kaffeeplantagen an der Küste zelebriert wurde?
Trommeln als Herzstück
Chelique Sarabia: „Revolución Electrónica en Música Venezolana“ (1971, Reissue Pharaway Sounds, 2019)
„The Magic Sound of Daniel Grau“ (1974 – 2014, Compilation Sonar Kollektiv, 2014)
Mito y Comadre: „Guajirando“ (ZZK, 2023)
Rawayana: „¿Quién trae las cornetas?“ (Broccoli Records, 2023)
Raúl Monsalve y Los Forajidos: „SOL“ (Olindo, 2025)
Oder davon, dass die Populärmusik Venezuelas sehr vielfältig und zumeist geprägt ist von afrovenezolanischen Rhythmen wie Quitiplás, Sangueo und Culo ’e Puya? Die Trommeln sind das Herzstück dieser Musik.
In den 1970er Jahren entwickelte sich eine florierende Musikszene in Venezuela. Caracas war für sein Nachtleben bekannt, und es entstand ein eigener Sound, darunter spezielle Varianten von Salsa und des Merengue aus der Dominikanischen Republik. Einer der Pioniere war Chelique Sarabia, Musiker und Poet. Schon in jungen Jahren hat er den Klassiker „Ansiedad“ komponiert, der in der „Spanglish“-Fassung von Nat King Cole berühmt wurde.
Auf seinem Album „Revolución Electrónica en Música Venezolana“ von 1971 verlieh Sarabia venezolanischen Volksliedern schließlich einen modernen Dreh. Er verwendete traditionelle Instrumente wie die Cuatro und die Bandola llanera, beides viersaitige Zupfinstrumente, filterte diese durch Oszillatoren und spielte mit Rückkopplungen, synthetisierten Frequenzen und Echos. Es war ein Album voller flirrender Gitarren und Effekte, gesponsert vom Ölmulti Shell, der die Platte zu Weihnachten an Kunden, Angestellte und Freunde des Unternehmens verschenkte (was ähnlich schräg ist, als wenn VW die Alben von Kraftwerk finanziert hätte).
Die Nachfolge Chelique Sarabias trat Musikproduzent Daniel Grau an. Er experimentierte mit Synthesizern und Drum Machines und kreierte eigenwilligen Breitband-Disco-Kitsch. Seine Musik enthielt Elemente von Jazz und brasilianischem Bossa Nova und „Maestro“ Grau wird auch der „Giorgio Moroder Lateinamerikas“ genannt. 2014 veröffentlichte das Berliner Label Sonar Kollektiv die groovende Kompilation „The Magic Sound of Daniel Grau“.
Wer kann, haut ab
Später blühte der HipHop als Protestmusik auf. Die wichtigste Figur des venezolanischen Rap war Canserbero, ein begnadeter Lyriker und MC, der 2015 unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Inzwischen weiß man, dass er umgebracht wurde. Es war der Rapper Apache, der das Mic von Canserbero übernahm. Apache gelang der Durchbruch aber erst, als er 2018 nach Medellin, Kolumbien, ging. „Als ich ankam, stellte ich fest, dass ich hier überraschenderweise einige Fans habe“, sagt Apache. „Das hat mir geholfen, und die Dinge laufen weiter gut.“
Ein Grund dafür, dass Musik aus Venezuela international insgesamt weniger goutiert wird als etwa die Brasiliens oder Kolumbiens, ist die politisch und wirtschaftlich miserable Situation des Landes, sie hat die Musikindustrie ruiniert. Wer kann, haut ab – rund 8 Millionen Menschen in den vergangenen zehn Jahren. Darum entsteht venezolanische Popmusik inzwischen vor allem in der Diaspora.
Das Duo Mito y Comadre etwa hat sich in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá kennengelernt. 2023 wurde ihr gefeiertes Synth-Pop-Debüt „Guajirando“ vom legendären Label ZZK aus Buenos Aires veröffentlicht. Ihr Video zu „Siento una pena“ begleitet einen Migranten bei seiner Reise in ein neues Land. Für Sängerin Shanna waren die Aufnahmen „wie ein Wiedersehen mit meiner Heimat“.
Soundtrack der Emigration
Über den Atlantik nach Europa sind venezolanische Musiker ebenfalls emigriert. In Paris ist etwa Raúl Monsalve ansässig. Mit seiner Band Los Forajidos erkundet der Bassist das komplexe Erbe seiner Heimat. War das Debüt „Bichos“ (2020) eine Hommage an Afrobeat-Pioniere wie Fela Kuti und Orlando Julius, mit dem Monsalve früher ausgiebig auf Tournee war, verbindet das wieder beim Label Olindo erschienene, zweite Album „SOL nun afrikanische und indigene Traditionen Venezuelas und schließt moderne Einflüsse mit ein.
Die größten Erfolge feiert gerade die Indie-Band Rawayana, die teils in Miami, teils in Mexiko-Stadt residiert. 2007 begannen die vier Musiker um den Sänger Beto Montenegro in Caracas unter zunehmend schwierigen Lebensumständen luftig-leichte Reggae- und Funkklänge zu produzieren, die Partys am Wochenende und Ausflüge zum Strand feierten.
Irgendwann blieb den Musikern nichts anderes übrig, als Venezuela zu verlassen. „Das Einzige, was wir tun konnten, war, in Privatkonzerten für reiche Leute zu singen oder für die Regierung aufzutreten. Wir mochten aber keinen dieser Wege“, sagt Montenegro rückblickend. So wurde ihre Musik zum „Soundtrack der Diaspora“, wie er sagt. (In der „Tiny Desk“-Konzertreihe gibt es einen schönen Liveauftritt von ihnen zu sehen.)
2024 gewannen Rawayana einen Grammy, danach wollte die Band endlich wieder in ihrem Heimatland touren. Doch es kam anders: In einem Song hatte Rawayana den zumeist abwertend für Venezolaner gebrauchten Begriff „Venecas“ (vom Anfang dieses Textes) als Liebesbekundung an die venezolanischen Frauen umgedeutet – jene seien nämlich Cheftypen und hätten athletische Körper, ohne ins Gym zu gehen. Präsident Maduro nannte das Lied gleichwohl öffentlich eine Beleidigung der Frauen des Landes – und die Konzerte mussten am Ende abgesagt werden.
Dieser Text ist in der taz-Verlagsbeilage „Global Pop“ erschienen.
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