Politologe über Aufreger Klimaschutz : Die ewige Leerstelle der Klimaliteratur
Die zentrale Frage wird stets ausgeklammert: Wie gewinnt man gesellschaftliche und politische Mehrheiten für die gebotenen klimapolitischen Maßnahmen? Über Bücher, die noch geschrieben werden müssen.

taz FUTURZWEI | An wissenschaftlichen Warnungen gibt es keinen Mangel. Im Jahr 1972 wurden bekanntlich bereits Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome veröffentlicht. 1996 erschien die erste Studie Zukunftsfähiges Deutschland und prägte entscheidend den Nachhaltigkeitsdiskurs.
Seitdem sind unzählige Studien, Strategien und Szenarien zur Energiewende, Nachhaltigkeit, sozialökologischen Transformation, zu Green Growth und Degrowth erschienen. Und immer bleibt die Frage: Warum tut die Politik so wenig?
Das gilt auch für KlimaGerecht. Das Buch sollte lesen, wer ein Update der jüngsten Publikationen zu Klimagerechtigkeit, Wachstumskritik und Suffizienz-Ansätzen in der Politik braucht.
Es geht um die gewaltige Herausforderung einer gerechten sozialökologischen Transformation. Und hier kommt die Trigger-Warnung: Die zentrale Frage, wie gesellschaftliche und politische Mehrheiten für all die gebotenen Maßnahmen gewonnen werden können, wird auch hier nicht beantwortet.
Dafür wird ausführlich die bisherige Politik analysiert und kritisiert, dass diese eben nicht konsequent Klimaschutz mit der Bekämpfung von Ungleichheit national und international verbunden habe.
Ohne sozialen Ausgleich kein Klimaschutz
Wichtigster erster Leitsatz: ohne mehr sozialen Ausgleich kein erfolgreicher Klimaschutz und keine Akzeptanz. Deshalb sollte jede Maßnahme erst einem Sozial-Check unterworfen werden. Das ist zwar keine neue, aber immerhin praktische Empfehlung.
Es ist klar, dass dies nicht mit einem Zusatz in der Geschäftsordnung der Bundesregierung und besserer Gesetzesfolgenabschätzung zu schaffen ist, sondern eher mit einer Änderung der politischen Prioritäten von Regierungsparteien. Aber wie?
Der zweite Leitsatz lautet: Suffizienz muss endlich eine Kernstrategie von Klimapolitik und Dekarbonisierung werden. Platt gesagt: weniger Autos, weniger Fleisch, weniger Wohnraum, weniger Flugreisen, weniger materieller Konsum. Auch nicht wirklich neu, da die Freunde des „Weniger“ sich seit Jahren an den Green-Growth-Strategien abarbeiten, also an „grünem“ Wachstum.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°33: Wer bin ich?
Der Epochenbruch ist nicht mehr auszublenden. Mit ihm stehen die Aufrüstung Deutschlands und Europas im Raum, Kriege, Wohlstandverluste, ausbleibender Klimaschutz. Muss ich jetzt für Dinge sein, gegen die ich immer war?
Mit Aladin El-Mafaalani, Maja Göpel, Wolf Lotter, Natalya Nepomnyashcha, Jette Nietzard, Richard David Precht, Inna Skliarska, Peter Unfried, Daniel-Pascal Zorn und Harald Welzer.
Erfrischend ist, dass kein „Wir“ angesprochen wird. Es gehe nicht darum, dass „wir den Gürtel enger schnallen“ müssten, sondern die Ansage „Maßhalten, Änderung von Konsumverhalten und Lebensstil“ richte sich insbesondere an jene Wohlhabenden (national und international), die heute überproportional fossil konsumieren und wirtschaften.
Suffizienz bedeute in diesem Sinne auch „mehr“ für Menschen im Globalen Süden. Und in Deutschland: dass Menschen mit wenig Einkommen mobil sind, sich eine Wohnung leisten können (plus Heizung) und eine solide Gesundheitsversorgung.
Angewandte Politikberatung empfiehlt Umverteilung
Peter Hennicke spricht in einem Interview auch von einer „Verteilungswende“, was nichts anderes heißt als Umverteilung. Das ist auch deshalb interessant, weil die Autorïnnen nicht aus der theoretischen, linken Ecke kommen, sondern aus der angewandten Politikberatung.
Hennicke war beispielsweise viele Jahre Präsident des Wuppertal Instituts, ist Mitglied des Club of Rome und verschiedener Enquete-Kommissionen des Bundestages. Und doch besprechen diese praxisorientierten Wissenschaftlerïnnen nationale Reichensteuern oder eine globale Milliardärssteuer, die im Moment politisch kaum durchsetzbar, aber eben wissenschaftlich geboten erscheinen. Klimagerechtigkeit folgt in diesem Sinne dem Verursacherprinzip: mit den Steuern der Hauptverursacher sollen finanzielle Spielräume für gerechte Klimapolitik geschaffen werden.
Auch dies ist natürlich nicht neu, sondern damit gehören die Autorïnnen eben zu jenen, die nicht davon überzeugt sind, dass eine lediglich auf Green Growth gestützte Strategie (wie der Green Deal der EU) ausreichen wird, also ein grünes Wachstum im Rahmen des bisherigen Wirtschafts- und Steuersystems.
Gute Zusammenfassung des gegenwärtigen Diskurses
In diesem Sinne bietet das Buch gute Zusammenfassungen aktueller Publikationen vom Postwachstum zum ökologischen Sozialismus, der Wohlergehensgesellschaft, der solidarischen Lebensweise, von der imperialen Lebensweise bis zu Kohei Saitos „Degrowth Communism“. Meistens weit weg von heutiger Realpolitik.
Spannender mit Blick auf praktische Politik sind da Verweise auf neue Szenarien, beispielsweise auf die Studie CLEVER (2023). Das ist das erste Klimaschutzszenario für europäische Staaten, dass neben den bekannten technischen Lösungen auch konkrete Suffizienzpolitik und den Abbau von Ungleichheiten vorschlägt.
Nahezu alle bisherigen Klimaschutzszenarien für Deutschland haben dies eben nicht getan, vermutlich weil sie im politischen Raum bis heute tabu sind.
Beispiele: Die von interessierter Seite befeuerten Diskussionen zu Heizungskeller und Fleischkonsum führten in Deutschland bekanntermaßen zu heftigen medialen und gesellschaftlichen Reaktionen.
„Die Autorïnnen haben das wichtigste Kapitel leider nicht geschrieben. Wie kann es zu gesellschaftlichen und dann zu politischen Mehrheiten einer solchen klimagerechten Suffizienzpolitik kommen?“
Und auch zu einer ungekannten Form politischer Denunzierung, siehe Markus Söder. Der würde beim Kapitel zum „transformativen Politikmix 2.0“ seine Freude haben. Da handelt es sich um eine Sammlung altbekannter Forderungen aus einer Perspektive, die als die „grüner und linker Spinner“ denunziert wird.
Politikmix aus Triggerthemen
Das reicht von der Abschaffung umweltschädlicher Subventionen (Dienstwagen, Diesel) bis zur Vermögens- und Erbschaftsteuer. Für Wohnen, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft werden politisch höchst sensible Instrumente aufgelistet: ein Moratorium zum Flughafenausbau, zwei bis drei Veggie-Days in Kantinen pro Woche, Tempolimit, Ausstieg aus der Subvention der stofflichen Nutzung fossiler Energien et cetera.
Wer Steffen Maus Studie kennt zu den „Triggerpunkten“ der deutschen Gesellschaft, der weiß: Diese Liste haut voll rein in gesellschaftlich höchst umstrittenes Terrain. Deshalb ist schade: Die Autorïnnen haben das wichtigste Kapitel leider nicht geschrieben. Wie kann es zu gesellschaftlichen und dann zu politischen Mehrheiten einer solchen klimagerechten Suffizienzpolitik kommen, wo doch die vorgeschlagenen Instrumente heute toxisch sind? Wie wird aus dieser Liste der politischen Tabus ein Parteiprogramm, mit dem man Wahlen gewinnt?
Da hilft es auch nicht, wenn die Autorïnnen von der Politik „mehr Mut“ fordern. Da scheint es naiv, auf entscheidende Impulse von Bürgerïnnenräten, Energiegenossenschaften, Klimanetzwerken oder pluralistisch zusammengesetzten Kommissionen zu setzen. Alles bekannt und sicher wichtige Bausteine, aber eben auch sehr bescheiden.
Dazu kommt eine zentrale Schwäche: Dieses Buch wurde noch gedacht und geschrieben in der alten Welt des frühen 21. Jahrhunderts. Jetzt kommt in Deutschland und in der Europäischen Union zur ökologischen Krise die sehr reale Bedrohung der Demokratie dazu, der Wirtschaft, des Rechtsstaates und der territorialen Integrität.
Die Balten, zum Beispiel, schauen mit Sorge auf ihre Grenze, ihre Freiheit, die Erhaltung des Friedens und ihre staatliche Unabhängigkeit. Was bedeuten Investitionen in Milliardenhöhe in Aufrüstung für den Klimaschutz? Das deutsche Exportmodell scheint plötzlich gefährdet. Was bedeuten wirtschaftlicher Umbruch und Unsicherheit? Wie geht sozialökologische Transformation, plus militärische Verteidigung plus wirtschaftliche Probleme und neue Spielregeln des Welthandels?
Dieses Buch wird dringend gebraucht. Doch es muss erst noch geschrieben werden.
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