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Politologe über Bürgerbeteiligung"Wutbürger sind normale Bürger"

Der Wuppertaler Politologe Hans J. Lietzmann über das Risiko politischer Entscheidungen, Bürger als Experten und warum er den Begriff "Wutbürger" zynisch findet.

Wutbürger, mal lauter mal leiser: In Stuttgart eher lauter. Bild: dapd
Nadine Michel
Interview von Nadine Michel

taz: Herr Lietzmann, warum reicht es den Bürgern nicht mehr, einfach nur alle vier Jahre ihr Kreuzchen zu machen?

Hans J. Lietzmann: Ich erkläre mir das mit zwei Aspekten. Der erste liegt in der gestiegenen Kompetenz. Wir haben ein Jahr für Jahr steigendes Bildungsniveau und einen Jahr für Jahr besseren Zugang zu Informationen. Dadurch ist das Beurteilungsvermögen unglaublich hoch. Der Streit um Stuttgart 21 hat ja gezeigt, dass Bürgerinitiativen fachlich mit den Experten spielend mithalten können.

Und was ist der zweite Aspekte?

Wir wissen inzwischen, dass politische Entscheidungen keine objektiven Lösungen sind und oft einen offenen Ausgang haben. Solche riskanten Entscheidungen können Experten allein nicht treffen.

Wieso das denn nicht? Das müssen Sie genauer erklären.

Nehmen wir doch zum Beispiel den Atomausstieg. Auch der ist mit Risiken verbunden. Ob ich solch ein Risiko eingehen möchte, muss ich sehr persönlich entscheiden. Oder nehmen wir das Beispiel Verkehrspolitik. Einzelne Experten urteilen in der Regel eher nur über einen, zum Beispiel den verkehrlichen, Aspekt, beachten dabei aber weniger die Umweltaspekte oder die sozialen Auswirkungen.

HANS J. LIETZMANN

59 Jahre, ist Professor für Politikwissenschaft. An der Bergischen Universität Wuppertal leitet er die "Forschungsstelle Bürgerbeteiligung".

Wenn die Fragen aber so komplex sind, ist es ja auch für den Bürger nicht leicht, eine Antwort zu finden. Was verlangt eine stärkere Beteiligung dem Bürger ab?

Klar, der Bürger muss sich sehr sorgfältig mit den verschiedenen Kriterien auseinandersetzen und sich eine Expertise aneignen. Die Menschen sollen ja nicht spontan, aus dem Stand heraus, entscheiden: "Finde ich gut" oder "Finde ich nicht gut".

Damit übernehmen die Bürger auch eine größere Verantwortung. Glauben Sie, dass den Leuten, die jetzt mehr Beteiligung fordern, diese neue Verantwortung schon bewusst ist und sie auch bereit sind, diese zu übernehmen?

Ob ihnen das bewusst ist, weiß ich nicht. Aber unsere Erfahrung zeigt, dass wenn man ihnen die Verantwortung gibt, sie diese auch kompetent übernehmen. Dabei entscheiden sie sehr gemeinwohl- und kompromissorientiert und jenseits ihrer eigenen, kurzfristigen Interessen.

Beteiligung bedeutet nicht nur mehr Verantwortung, sondern auch viel Einsatz. Werden die meisten nicht irgendwann die Nase voll davon haben?

Es gibt ja Überlegungen für dauerhafte Bürgerparlamente. Davon halte ich nicht viel. Aber bei so spektakulären Entscheidungen wie etwa über einen Bahnhofsneubau oder Stromtrassen wird es überhaupt kein Problem sein, Leute zu mobilisieren, die sich intensiv und ausgiebig mit Experten beraten und die Bürgerinteressen vertreten.

Wird der Wutbürger die Republik nachhaltig verändert haben oder handelt es sich um eine Trendwelle, die bald wieder abebbt?

Demokratie verändert sich, seit es sie gibt. Wie das genau geschieht, werden wir sehen. Im Übrigen finde ich es sehr zynisch, von Wutbürgern zu reden. Wir beschweren uns ständig über Politikverdrossenheit und eine Individualisierung der Gesellschaft. Die sogenannten Wutbürger sind aber ganz normale, politisch engagierte Bürger, die genauso mal lauter und mal leiser sind, wie die Parlamentarier in Debatten mal lauter und mal leiser sind.

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7 Kommentare

 / 
  • KF
    karlheinz fricke

    "Wutbürger sind normale Bürger"

     

    Man musste nicht wissen woher der Begriff «Wutbürger» stammte.

    Man ahnte sofort: er gehört zum Arsenal der neoliberal tickenden,

    sich selbstzensierenden Machtopportunisten, die immer im Sinne der

    herrschenden, besitzenden Klasse agieren. Er hat in der Absicht

    einen eindeutig diffamierenden Hintergrund.

     

    Da es sich um effiziente Protestformen Angehöriger der eher

    bürgerlichen Mitte - wie in Stuttgart - handelt, fällt die

    Kriminalisierung als «linksindoktrinierte Chaoten» schwer,

    ebenso wie der Gewaltvorwurf als Mittel der Diskriminierung.

    Um so mehr stellen solche Bewegungen eine Gefährdung grundsätzlicher

    Interessen gewisser Kreise dar, die nicht schwer zu erraten sind.

    Welche Position die «taz» hier einnimmt ist ebenso unschwer

    festzustellen.

     

    Zur gleichen Art Sprachmunition gehört seit langem der Gebrauch

    des Begriffs des «poltern», im Falle dass jemand etwas unliebsames

    engagiert hervorbringt, welches man inhaltlich schlecht kritisieren

    kann oder will. Im positiv gemeinten Gegenteil ist ebenfalls schon länger

    die Beschreibung, dass jemand etwas «angenehm unaufgeregt»

    darbringt in Gebrauch.

     

    Es ist dem Allen gemein, dass Emotionen ungeliebt sind.

    Besonders jenen Zeitgenossen die das Engagement nicht kennen,

    genausowenig wie die eigene Position.

     

     

    Karlheinz Fricke

  • K
    Kritikerin

    Meiner Beobachtung nach gibt es so'ne und so'ne so genannten Wutbürger/innen: Egoistische, nicht egoistische, berechnend Auftretende, aggressive, nicht aggressive u.a.m.; eben das breite Spektrum der Bevölkerung und Mitläufer/innen ebenso.

    Deshalb nun gleich davon auszugehen, dass Wutbürger/innen die quasi besseren Menschen seien, da habe ich so meine Zweifel.

    Von amtlichen Experten erwarte ich, dass sie nicht nur mit dem Tunnelblick Entscheidungen treffen.

    Das kann ich nicht von so genannten Wutbürger/innen erwarten.

  • U
    uawg

    Endlich sagt das mal jemand. Den dümmlichen Begriff "Wutbürger" hat einst ein Autor bei Spiegel Online geprägt, als es in Stuttgart hoch her ging. Obwohl es ja eher nach Bildzeitung klingt. Alle Medien inkl. der taz haben ihn dann gerne übernommen, weil er ja so "griffig" ist. Klingt nur leider nach Witzfigur, Querulanten-Rentner und Maschendrahtzaun. So formt man professionell mit Sprache Denken. Wer will schon ein dummer Wutbürger sein, mit rotem Kopf und schimpfend? Niemand. Dem "Mutbürger", den ein anderer gegensätzlicher Meinungsartikel einige Zeit später entdeckt haben wollte, war dann auch weniger Erfolg beschieden.

     

    Wie sollen wir denn dann eigentlich diese aktuelle politische Klasse nennen? Karrierepolitiker? Korruptis? Handlanger der Bertelsmannstiftung? Heizlüfter? Pfeifen? Verräterpartei und Öko-FDP, Guidos Gulliclub und Merknixel? Nein? Das sei doch dümmlich und populistisch, und würde den vielen Menschen nicht gerecht, die sich da so toll in den Parteien engagieren? Ach soooo ist das, verstehe.

     

    Spiegel Online war übrigens auch der Laden, der einst zu Schröderzeiten Merkel und Schwarzgelb hochschrieb und in den Himmel lobte, und der heute stattdessen gerne Steinbrück zum Kanzler ernennen will mit wöchentlichen Werbeartikeln. Was ist gefährlicher für eine Demokratie, sich engagierende "Wutbürger" mit eigenem Kopf, oder die ganzen Lemminge und Gimpel, die ihre politische Meinung bei Spiegel Online downloaden und bei sich im Kopf installieren, und auf hohle Wahlplakate und Personalisierungen von SPD und CDU reinfallen wie dumme Kinder? Ich bevorzuge die ersteren.

  • NB
    normale Bürger

    Wenn man nicht 80 Stunden die Woche arbeiten muss und 100 meilen pro Tag per Auto fahren um seine 8köpfige Familie mit den US-Mindestlohn durchzufüttern, bleibt Zeit, sich um seine Probleme zu kümmern.

    Charity-Mums kümmern sich um Charity-KRams und bleiben aus Politik raus. Aber andere sehen das nicht ein. Die Taz hatte doch neulich einen Artikel über ich glaube eine Analyse das Bürger sich bei mehr Bildung und eigener Betroffenheit um Probleme kümmern und das dann auch tun.

    Verantwortung übernehmen Politiker und Manager doch auch nie. Das ist bei Bürgern nicht anders. Die nächsten Generationen bezahlen die tausende Jahre die man den Atommüll bewachen muss. Oder die Schulden von der Expo-Weltausstellung oder die steigenden Bahnpreise dank Stuttgart21-Preiserhöhungen. Oder 100 Euro pro GPS-Gerät weil Frankreich und Deutschland dasselbe an Galileo verdienen wollen. Usw.

    Diffamierung gehört zum politischen Evolutionsprozess. "Erst verlachen sie dich, dann kriegen sie Angst vor Dir" ist ein typisches Linuxer-Mantra welches ich allerdings wohl etwas falsch aus Erinnerung zititert habe.

    Diese Wutbürger machen das, was die Presse hätte tun müssen. Es gibt immer Gegengutachter die reden wollen. Aber in der formatierten (Links, rechts, neoliberal,...) Presse kein wort kriegen sondern erst wenn ein Hinterbänkler oder Parteimitglied dieselbe Idee verkündet die vorher schon "von der Seite" ignoriert wurde weil kein Partei-Aufkleber dranstand.

     

    Man könnte auch 10 Euro pro Bürger jedes Jahr per Internet verwalten lassen. Dann sanieren die lokalen Dachdecker die Schuldächer ihrer Enkel selber. Wenn ich Bürgermeister wäre, würde ich das mit kleinen Beträgen etablieren. 99% gehen ja für Schulden und Verpflichtende Arbeiten drauf. Aber wo man zuerst die Hecken schneidet oder Schnee räumt, kann der Bürger durchaus mitentscheiden und gerne mit (eigenem!) Geldeinsatz (oder seinen Bürger-steuern oder Grundsteuer-Anteil) verstärken, wenn keine unredlichen Nachteile entstehen.

  • S
    SeriouStef

    Sie sprechen von mehr " Verantwortung" und "Einsatz" der Bürger, wenn diese sich stärker politisch beteiligen wollen (beides ist übrigens erforderlich um wählen zu gehen), doch sehe ich diesbezüglich mindestens genauso viel Handlungsbedarf bei unserer politischen Elite. Verzeichnen wir hier also ein Pat.

    Doch der Bürger ist derjenige, der den "(un)verantwortlichen Einsatz" finanziert.

    Böse Zungen könnten behaupten, dass hier die Legitimation falsch verteilt ist.

  • K
    Karlsruher

    Herr Lietzmann spricht davon, dass es irgendwo wohl den Gedanken, dauerhafte Bürgerparlamente einzurichten.

    Kleine Info dazu: Die gibt es, wir nennen sie meistens Landtag oder Bundestag. Dort sitzen Bürger drinne, die von allen anderen Bürgern gewählt wurden. Natürlich spielt da auch die parteiinterne Politik eine Rolle, aber niemand hindert uns, neue Parteien zu gründen und bestehende Parteien zu verschmähen (Beispiel: Piraten und FDP)

    Als informierter und engagierter Bürger wünsche ich mit drei Dinge:

    - Mehr direkte Demokratie, niedrigere Hürden für Volksabstimmungen und intensive öffentliche Diskussionen

    - keine Ersatzparlamente (Schlichtungsrunde, Runder Tisch), die ohne demokratische Legitimation nur die Interessen der Lauten oder der Lobbygruppen (siehe Schlichtung zu S21) vertreten, sondern offene, ehrliche Diskussionen im Parlament, ohne Fraktionszwang

    - Bürger, die sich für das Ganze einsetzen und nicht nur für ihre Partikularinteressen (Religionsunterricht in Berlin, S21 in BaWü). Politik ist mehr, als das Engagement für die eigenen Belange. Ansonsten werden wir zur Latte-Macchiato-Demokratie, in der Lehrer und Werbeleute aus den bürgerlichen, sanierten Wohnquartieren kampagnefähig sind und die Agenda bestimmen, Gruppen am Rande der Gesellschaft aber immer weniger Gehör finden.

     

    Beste Grüße zum Wochenende

  • H
    heinz

    Und wo liegt der Informationsgewinn dieses Interviews?

    Das "Wutbürger" kein Terminus ist der der Debattenkultur zuträglich ist, scheint doch eher evident. Das "stetig steigende Bildungsniveau" wäre dann doch bitte in Zahlen auszudifferenzieren und ggf mal nach sozialem Hintergrund zu durchleuchten. Der 08/15 Stuttgart Protestierer ist sicher nicht vom Bau. In Zeiten zunehmden Framings durch die Massen-Medien habe ich doch große Zweifel and der gestiegenen Expertise der "breiten Masse" der Bürger. Sicher sind sie zunehmend dazu gezwungen sich diese anzueignen - wem das gelingt und wem nicht und warum das so ist, wäre allerdings mal eher ein Thema für ein Interview mit Soziologen.

    Weder stichhaltige Analyse, noch ernsthafte Überlegeungen wie die nur sehr grob angerissenen Sachverhalte unsere Gesellschaft im positiven Verändern könnten. Bitte solche Themen wenn, dann doch etwas detaillierter oder man kann sichs gleich sparen.