: „Politische Reform ist das allerwichtigste“
Interview mit Su Shaozhi, dem früheren Leiter des Instituts für Marxismus-Leninismus an der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften ■ I N T E R V I E W
taz: Was muß die chinesische Führung jetzt tun, um die Reform zu beschleunigen?
Su: Dank der Studentenproteste ist der Wunsch des Volkes nach politischer Selbstbestimmung wieder erwacht. Der Parteichef Zhao Ziyang betonte vor kurzem in einer Rede, daß sowohl die Wirtschaftsreform, als auch die politische Reform jetzt unbedingt wiederaufgenommen werden müssen. Die politische Reform darf nicht der wirtschaftlichen Reform hinterherhinken. Das ist das allerwichtigste für das Gelingen der Umgestaltung.
In der Vergangenheit sah es so aus, als hätte China die UdSSR im Reformwillen weit hinter sich gelassen. Doch seit kurzem fällt China wieder hinter die UdSSR zurück. Warum?
Das hängt davon ab, über welchen Bereich wir sprechen. In der Wirtschaft hat die UdSSR noch immer nicht von der geplanten marxistischen Wirtschaft Abschied genommen. Doch in der politischen Reform ist uns die UdSSR weit voraus, weil es dort landesweite demokratische Wahlen zum Obersten Sowjet gibt.
Fordern die chinesischen Intellektuellen etwas Ähnliches?
Das sollte zwei Bereiche umfassen. Wir brauchen eine freie, demokratische Wahl der Delegierten in der Partei. Für den Volkskongreß sollten wir freie, demokratische Wahlen für alle Abgeordneten anstreben.
Aber seit dem letzten Jahr scheinen die konservativen Kräfte in der KP die Oberhand gewonnen zu haben. Werden die sich nicht heftig dagegen wehren?
In jeder kommunistischen Partei gibt es unterschiedliche Positionen, das heißt also auch, daß irgendwann auch einmal die Konservativen überlegen sind. Doch in China scheint die Situation derzeitig sehr kompliziert zu sein. Zumindest bis Ende April hatten sie die Kontrolle über die Kommentarspalte in der 'Volkszeitung‘. Doch Zhao Ziyangs Rede für mehr politische Reform wurde ebenfalls dort veröffentlicht. Es ist nicht klar zu durchschauen, was dort gegenwärtig passiert.
Es gibt Gerüchte, daß Deng Xiaoping zurücktritt, wenn der Staatsbesuch Gorbatschows beendet ist. Heißt das, es kommt zu einem klassischen Machtkampf zwischen Konservativen und Reformkräften um seine Nachfolge?
Als Deng noch letzte Woche im Fernsehen auftrat, widersprach er ausdrücklich nicht Zhaos Idee von mehr politischer Reform. Es ist nicht sehr klar, was in der nahen Zukunft in China passiert.
Werden die Studentenproteste weitergehen können, wenn Gorbatschow China wieder verlassen hat, oder werden sie niedergeschlagen, wie Deng Xiaoping schon vor Wochen gefordert hat.?
Jetzt, wo das Volk seinen Wunsch nach Freiheit so massiv ausgedrückt hat, kann das nicht mehr sehr einfach ignoriert werden. Ich bin optimistisch, daß Zhao Ziyangs Ideen die Oberhand gewinnen. Denn er wird von der Bevölkerung unterstützt.
Wie würden Sie die gegenwärtige Wirtschaftslage Chinas generell und wie für Intellektuelle beschreiben?
Schrecklich. Das Einkommen der Intellektuellen ist zu niedrig. Eine der wichtigsten Schritte der Reform müßte es sein, die wirtschaftliche Situation der Intellektuellen zu verbessern, wenn die Reform überhaupt Erfolg haben will.
In den fünfziger Jahren hieß es, laßt uns von der Sowjetunion lernen. Einer der Slogans der protestierenden Studenten letzte Woche lautete: Laßt uns das taiwanesische Modell kopieren. Wollen die chinesischen Intellektuellen, daß sich China analog zu den asiatischen Schwellenländern entwickelt?
Einige Leute meinen, Taiwan könnte ein Beispiel für uns sein. Ich glaube nicht, daß man irgendein Modell kopieren kann. Doch wir könnten aus den Erfahrungen Taiwans lernen.
Wenn es kein politisches und wirtschaftliches Modell im Ausland gibt, welches Modell halten Sie für China geeignet?
Auf jeden Fall ein sozialistisches. Es sollte sich aber von dem orthodoxen Marxismus der Vergangenheit unterscheiden. Im Bereich der Ökonomie halte ich eine gemischte Volkswirtschaft, die sich aber von der gemischten kapitalistischen Wirtschaft unterscheidet, für das richtige. In der Großindustrie sollten wir weiterhin auf staatlichem Eigentum bestehen.
Kann der Sozialismus denn überhaupt noch Chinas Probleme lösen?
Wir brauchen eine ganz neue Vorstellung von Sozialismus. Ich bezeichne das als Überdenken des Sozialismus und Weiterschreiten in Richtung eines ganz neuen Sozialismus.
Wie sieht das konkret aus?
Wir sollten die Früchte der Modernisierung genießen können und die Defekte dieser Modernisierung versuchen, zu vermeiden. Im Kapitalismus haben sie moralische Krisen und das Problem der Ungleichheit. Das sollten wir in China vermeiden, ohne uns ganz vor der Modernisierung zu verschließen.
Das Interview führte Jürgen Kremb
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