Politische Krise im Irak: Des Predigers Lichtschalter
Im Irak rief der schiitische Kleriker Sadr seine Anhänger zu gewalttätigen Protesten auf. Dann pfiff er sie zurück – und wartet nun auf Entgegenkommen.
Dann rief Sadr am Dienstagmittag seine Anhänger auf, innerhalb einer Stunde die Gewalt zu beenden und sich zurückzuziehen. In weniger als 60 Minuten räumten diese friedlich das Gebiet, in dem Regierung, Parlament, UN-Büros und die meisten ausländischen Botschaften ihren Sitz haben. Doch über Nacht hatten sie die Grüne Zone in ein Schlachtfeld verwandelt. Videos in den sozialen Medien zeigen den Einsatz von Raketenwerfern und auf dem Boden liegende Patronenhülsen. Mindestens 30 Menschen sind ums Leben gekommen.
Auch in anderen schiitischen Teilen im Süden des Landes gab es zwischen Sadristen und proiranischen Milizen Auseinandersetzungen.
Es war ein Zusammenstoß, der sich seit Monaten zusammengebraut hatte. Begonnen hat es vor zehn Monaten bei den Parlamentswahlen. Die Partei Sadrs erhielt dabei die meisten Stimmen – aber nicht genug, um die irakische Politik fortan im Alleingang zu bestimmen und vor allem nicht, um jenseits der Konkurrenz anderer, proiranischer schiitischer Parteien zu regieren. Die schiitischen Parteien bilden zusammen die absolute Mehrheit im Parlament und bestimmen somit letztlich die irakische Politik.
Sadr präsentiert sich als irakischer schiitische Nationalist
Nachdem die Verhandlungen um eine neue Regierung ins Nichts geführt hatten und kein innerschiitischer Deal gefunden wurde, zog Sadr im August seine Abgeordneten ab und forderte eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Seitdem herrschte eine Pattsituation, die das ganze Land lähmte – bis Sadr am Montag seine Anhänger von der Leine ließ.
Das Ganze ist eine innerschiitische Auseinandersetzung, Sunniten, Kurden, Christen sowie weitere Minderheiten im Irak sind hier nur Zaungäste. Im Kern geht es darum: Wer dominiert die Schiiten des Landes, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen, politisch? Es ist ein Machtkampf zwischen proiranischen Parteien und Milizen und Sadr, der sich in letzter Zeit zunehmend vom Einfluss Teherans auf die Politik im Irak distanziert hat und sich als irakischer schiitischer Nationalist präsentiert.
Was zunächst relativ friedlich begann, als Sadrs Anhänger in den Präsidentenpalast eindrangen und im dortigen Swimmingpool ein Bad nahmen, eskalierte schnell in heftige Schusswechsel in und vor der Grünen Zone zwischen den rivalisierenden Gruppen. Ganz Irak hielt den Atem an, in der Befürchtung, dass das geschundene Land erneut in einen Bürgerkrieg, diesmal einen innerschiitischen, schlittern könnte.
Sadr und seine proiranischen Rivalen spielten mit dem Feuer. Auch wenn es ihnen am Ende wahrscheinlich nur darum ging, sich mit Waffengewalt an den Verhandlungstisch zu schießen: Sie hatten eine gefährliche Dynamik losgetreten, die jederzeit völlig außer Kontrolle hätte geraten können.
Sadrs Anhänger zeigten ihr Waffen
Sadr setzte seine Lichtschalter-Politik ein, wie er es so oft zuvor getan hatte, etwa als er seine Anhänger in einer Machtdemonstration dazu aufrief, das Parlament zu besetzen, nur um sie kurz darauf wieder zurückzupfeifen.
Doch diesmal eskalierten die Sadristen diese bewährte Methode einen Zacken weiter und tauchten mit Waffen auf. Damit zeigten sie den rivalisierenden proiranischen Milizen, dass sie auch fähig sind, militärisch auf Iraks Straßen Flagge zu zeigen. Sie hofften damit wohl, ihre Verhandlungsmasse zu erhöhen.
Nun hat Sadr die Seinen wieder an die Leine genommen. Jetzt wird er, in dieser erneuten zynischen Episode irakischer Politik, warten, was ihm angeboten wird. Möglich ist, dass die andere Seite nun doch einer Auflösung des Parlaments und Neuwahlen zustimmt. Möglich ist auch, dass man sich für eine begrenzte Zeit auf eine neue Regierung einigt, in der weder Sadristen, noch die Vertreter der proiranischen Parteien, sondern nur Technokraten sitzen.
Das würde beiden Seiten und dem Land eine Atempause verschaffen. Denn wenn die letzten beiden Tage im Irak eines bewiesen haben, dann wie sehr das Land sich in der Geiselhaft schiitischer Parteien und Milizen, sowie deren Ringen um Macht und Einfluss befindet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel