Politische Beteiligung in Brandenburg: Von wegen Bullerbü-Heimat
Wegen der idyllischen Landschaft wirkt Brandenburg fast unpolitisch. Unser Autor wehrt sich gegen dieses Bild und sagt: Das Gegenteil ist der Fall!
I m Garten liegen, Katzen streicheln und leckeres Essen verzehren. Wenn ich heute meine Eltern in Falkensee besuche, ist das so idyllisch, geborgen und grün wie schon in meiner Kindheit. Eigentlich bin ich in Westberlin geboren und meine Eltern kommen aus Westdeutschland. Trotzdem sehe ich mich am ehesten als Ostdeutschen. Ich bin hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Mittlerweile stehe ich auch dazu.
Noch vor einigen Jahren stellte ich mich als Berliner vor, manchmal als „Westberliner“. Ich wollte dem Augenrollen abgehobener Berliner:innen entgehen. „Ostdeutsch“, da fühlte ich mich abgehängt, gelähmt.
Der Text ist aus einem zu den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Rahmen eines Online-Workshops der taz Panter Stiftung entstandenen Ostjugend-Dossier, das durch Spenden finanziert wird: taz.de/spenden
Zum Studieren zog es mich und viele Freund:innen direkt nach Berlin. Jetzt sind einige Jahre vergangen, jetzt wissen wir, was wir an Falkensee hatten. Einen geborgeneren Ort zum Aufwachsen gibt es nicht. Hier grasen Ziegen am See, jede:r kennt jede:n, ist die Welt noch in Ordnung. Klingt kitschig? Ist es auch!
Mit einem melancholischen Gefühl rolle ich auf dem Fahrrad die malerischen Alleen in Falkensee entlang: gut gepflegte Vorgärten, stolze Terrassen vor den typischen Einfamilienhäusern. Es ist ein Gefühl, als würde hier nichts passieren, sich nichts verändern und meine Bullerbü-Heimat für immer so harmonisch bleiben.
In der Heimat tut sich was
Aber noch auf dem Rad fällt mir auf: Das stimmt nicht. Reichsflaggen, NS-Parolen, die Compact-Redaktion ebenso wie linke Sticker und Antifa-Graffiti setzen meiner melancholischen Radtour ein jähes Ende. Ich erinnere mich an Geflüchtetenunterkünfte mitsamt Willkommensfest und Gegendemo, an die ostdeutschen Kommunalwahlen im Juni. Meine Heimat ist politisch. Entgegen dem Bild von einem „unpolitischen Osten“, das mir Wirtschaftsprofessoren vorsetzten und das durch unterschiedliche Sorgen zwischen Ost und West zum Narrativ wird, tut sich hier was.
Bloß weil in den neuen Bundesländern, die durch die Wende ökonomisch gebeutelt wurden, deutlich weniger Parteimitglieder oder Betriebsräte existieren, sind die Menschen hier nicht unpolitischer als irgendwo sonst in der Republik. Es fehlt an Angeboten, nicht an politischem Potenzial.
Wenn ich das den Gemeinden und Kleinstädten abspreche, brauche ich mich nicht über vermeintlich schockierende Wahlergebnisse zu wundern. Die entstehen genau dort, wo man meint, fernab jeglicher Politik zu sein. Dieser Perspektivenwechsel hilft zu verstehen, wohin ich mit der Regionalbahn zu meinen Eltern fahre.
Tim Kemmerling (24) ist ein Kind westdeutscher Eltern, in West-Berlin geboren und in Falkensee aufgewachsen, nur, um nach dem Abi direkt wieder nach Berlin zu fliehen und dort Volkswirtschaftslehre zu studieren. Mit „Dem Osten“ konnte er sich nie identifizieren, bis er von dort wegzog.
FOTOGRAFIE: Tim Gassauer, 27, aufgewachsen in Thüringen, lebt und arbeitet als Fotograf zwischen Berlin und Chemnitz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren