Politikwissenschaftler über Venezuela: „Maduro sitzt fest im Sattel“
Die Venezolaner stimmen über ihr Parlament ab. Die Opposition könnte ihre letzte Bastion verlieren, sagt Politikwissenschaftler Andrés Cañizalez.
taz: Herr Cañizalez, am Sonntag finden in Venezuela Parlamentswahlen statt. Was bewegt die Menschen im Moment?
Andrés Cañizalez: Wir sind jetzt seit acht Monaten in Coronaquarantäne, das hat die wirtschaftliche und soziale Situation nochmal verschlechtert. Die meisten Menschen sind nur damit beschäftigt, für ihr Überleben zu sorgen. Was esse ich morgen? Wo bekomme ich Gas, Wasser oder Benzin? Der Mindestlohn beträgt umgerechnet 1 US-Dollar, eine Monatsrente im Schnitt rund 0,50 US-Dollar. Es gibt kaum funktionierende Krankenhäuser, auch die staatlichen Essenspakete werden seltener und mit weniger Lebensmittel ausgeliefert. Die Politik kümmert die meisten im Moment nicht, der Staat kann die Bedürfnisse der Menschen nicht mehr erfüllen. Hinzukommt, dass es keine Präsidentschafts-, sondern „nur“ Parlamentswahlen sind. Umfragen rechnen mit einer Wahlbeteiligung von 30 Prozent bei normalerweise rund 50 Prozent.
Bei den Parlamentswahlen 2015 haben die Oppositionsparteien die Mehrheit errungen. Der Vorsitzende des gewählten – und von Nicolás Maduro danach entmachteten – Parlaments, Juan Guaidó, hat sich zum Gegenpräsidenten ausgerufen. Wo steht die Opposition heute?
Am 6. Dezember finden in Venezuela Parlamentswahlen statt. Doch ein Großteil der Opposition boykottiert die Abstimmung – auch Oppositionsführer und selbsternannter Übergangspräsident Juan Guaidó. Mit Staatschef Nicolás Maduro liefert er sich einen Machtkampf. Seit fünf Jahren hält die Opposition in der Nationalversammlung eine Zweidrittelmehrheit. Anfang 2019 ernannte sie ihren Vorsitzenden Guaidó zum Interimspräsidenten – anerkannt von über 50 Ländern, darunter die EU. Außerdem galt die Wahl zur Nationalversammlung Ende 2015 als die letzte freie und demokratische Abstimmung in Venezuela. (taz, epd)
Es war damals der wichtigste Wahlsieg der Opposition in den letzten 20 Jahren. Die Oppositionsparteien waren in der „Mesa de Unidad Democratica“ vereint und haben die Wahlen sehr klar gewonnen. Die Protagonisten werden aber bei dieser Wahl nicht antreten. Auf dem Wahlzettel werden zwar eine Menge Parteien stehen, aber die wurden vom obersten Gericht gleichgeschaltet oder es sind kleinere Parteien, die zwar in Opposition sind, die aber keinen Wechsel anstreben, sondern ihre eigenen Pfründe verteidigen wollen.
Und wie steht es um die bekannten Oppositionsfiguren?
Keiner von ihnen wird an den Wahlen teilnehmen. Guaidó und das Präsidium des jetzigen Parlamentes werden eine Volksbefragung per Internet durchführen, in der sich die Bürger auch dazu äußern sollen, ob sie gegen die Wahlen sind. Diese Befragung ist schlecht organisiert und wird meiner Meinung nach keine große Wirkung haben – 40 Prozent der Venezolaner haben gar kein Internet. Leopoldo López, der Vorsitzende der Partei Voluntad Popular, zu der auch Guaidó gehört, ist nach Jahren der Haft und des Hausarrests ins Exil nach Spanien gegangen. Auch Enrique Capriles von Primero Justicia hat sich zurückgezogen.
Was steht dann überhaupt auf dem Spiel am Sonntag?
Ich denke, die Regierung möchte das Parlament kontrollieren, auch wenn es nur eine hohle Schale sein wird. Sie vernichtet damit die letzte Bastion der Opposition. Wahrscheinlich gibt es auch einen ganz praktischen Grund: Die befreundeten Länder China, Russland und Türkei können Venezuela dann wieder Kredite geben. Denn laut venezolanischer Verfassung, muss jede Staatsverschuldung vom Parlament abgesegnet werden.
Was wird nach den Wahlen geschehen?
ist Journalist und promovierter Politikwissenschaftler. Er forscht an der Universidad Católica Andrés Bello in Caracas, Venezuela und ist Direktor der NGO „Medianálisis“.
Die große Frage ist, was mit Guaidó passiert, denn das Parlament war sein einziger legitimer Rückhalt. Es ist nicht klar, wie sich die internationale Gemeinschaft verhalten wird. Bisher hat nur die USA angekündigt, Guaidó weiterhin anzuerkennen. Aber die Regierung Trump wird im Januar abgelöst. Die Regierung Maduro sitzt fest im Sattel und sie ist sich ihrer Macht so sicher, dass es ihr egal ist, ob irgendjemand die Wahlen anerkennt.
Wie könnte sich trotzdem etwas ändern?
Wenn es so weit ist für einen Wechsel, dann wird der wohl aus dem Chavismus selbst kommen. Auch dort gibt es verschiedene Strömungen, die Kommunistische Partei Venezuelas etwa hat sich von den Chavisten getrennt. Die Kommunisten sind zwar eine sehr kleine Partei, aber bisher standen sie immer an der Seite der Regierung. Die meisten Venezolaner lehnen Maduro ab. Aber bisher kanalisiert niemand diese Ablehnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften