Politik: „Rechtswidrig und betrugsartig“
Tausende Geflüchtete sitzen in der Schuldenfalle – nicht, weil sie etwas falsch gemacht haben, sondern wegen des baden-württembergischen Ministeriums für Justiz und Migration. Ein Gericht spricht sogar von Betrug. Doch statt einer einfachen Korrektur kommt nun eine Gesetzesänderung, die alles komplizierter macht.
Von Gastautor Séan McGinley
Mehrere Tausend Menschen in Baden-Württemberg, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) beziehen, sind durch erdrückende Krankenkassenbeiträge in die Schuldenfalle getrieben worden. Schuld ist eine Vorgabe des Ministeriums für Justiz und Migration an lokale Sozialämter, welche von mehreren Gerichten als rechtswidrig eingestuft wird. Eines dieser Gerichte spricht von einer Praxis, die „auf den Betrug der in ihrem Gastland ohne Arbeit, Einkommen, Sprach- und Rechtskenntnisse hilflosen Menschen auf der Flucht“ ausgerichtet sei. Eine Gesetzesänderung der Bundesregierung soll Abhilfe schaffen, indem es die Betroffenen gleich komplett aus den gesetzlichen Krankenkassen wirft. Worum geht es?
Wer Leistungen nach dem AsylbLG bezieht, hat grundsätzlich keinen Anspruch auf eine reguläre Krankenversicherung, sondern nur auf Behandlung akuter Krankheiten und Schmerzzustände. Erst nach 36 Monaten Aufenthalt in Deutschland erfolgt ein Übergang von diesen „Grundleistungen“ zu Leistungen analog zum Sozialgesetzbuch. Hierzu gehört auch die Mitgliedschaft in einer gesetzlichen Krankenkasse.
Wenn eine Grundleistungen beziehende Person allerdings einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgeht, dann geht damit auch die Krankenkassenmitgliedschaft einher. Endet aber diese Beschäftigung, bevor die Person seit 36 Monaten in Deutschland gewesen ist, fällt die Person in den AsylbLG-Grundleistungsbezug zurück – mit der bereits erwähnten eingeschränkten gesundheitlichen Versorgung.
Allerdings ist es nicht möglich, die Krankenkasse zu kündigen, außer man hat eine anderweitige ausreichende Absicherung – beispielsweise eine private Krankenversicherung. Hat man diese nicht, kommt mit dem Ende der Versicherungspflicht (etwa durch Beendigung einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung) eine obligatorische Anschlussversicherung (OAV) zum Tragen. Man muss also auf jeden Fall Mitglied einer Krankenkasse bleiben. Das Bundessozialgericht (BSG) hat 2022 entschieden, dass die eingeschränkte gesundheitliche Versorgung des AsylbLG keine solche anderweitige Absicherung darstellt. Heißt: Wenn Asylsuchende während ihrer ersten 36 Monate in Deutschland ihre sozialversicherungspflichtige Arbeit verlieren, greift die obligatorische Anschlussversicherung. Das Bundessozialgericht entschied aber nicht, wer die Beitragskosten tragen muss. Während in Rheinland-Pfalz die Landesregierung klargestellt hat, dass die Sozialämter dies zu tun haben, ist in Baden-Württemberg das zuständige Ministerium für Justiz und Migration der Meinung, es würde keine Rechtsgrundlage für eine Übernahme der Beiträge durch die Sozialämter geben. Hier sei eine Gesetzeslücke, die nur auf Bundesebene geschlossen werden könne. Das schrieb das Ministerium am 26. August 2024 an die Landkreise und Kommunen und kündigte gleichzeitig an, dass Behörden, welche die Beiträge bislang übernommen haben, diese ab 2025 nicht mehr vom Land erstattet bekommen würden.
Die Folge davon war, dass tausende Menschen landesweit plötzlich Beitragsrechnungen erhielten, die sie keinesfalls bezahlen konnten. Die Beiträge liegen meist um die 250 Euro im Monat für eine alleinstehende Person – die nach AsylbLG einen monatlichen Regelsatz von 460 Euro erhält.
Der Freiburger Rechtsanwalt Martin Weise, der für die erste erfolgreiche Klage gegen die verweigerte Übernahme der Beiträge verantwortlich war, schätzt, dass er um die 30 Mandate zu dieser Thematik übernommen hat. „Tatsächlich betroffen dürften aber viel mehr Personen sein. Die ‚Dunkelziffer‘ scheint mir recht hoch zu sein“, sagt der Jurist.
Die AOK Baden-Württemberg hat nach eigenen Angaben um die 1.400 Mitglieder, die obligatorisch anschlussversicherte AsylbLG-Grundleistungsbeziehende sind. Die anderen großen Krankenkassen TK, DAK und Barmer geben an, ihnen lägen entsprechende Zahlen nicht vor.
Die klagenden Geflüchteten bekamen immer Recht
Die vom Rechtsanwalt Weise erstrittene erste Entscheidung eines baden-württembergischen Sozialgerichts kam am 17. März 2025 vom Sozialgericht Freiburg. Sein Mandant, ein 25-jähriger syrischer Kurde, verklagte das Landratsamt des Ortenaukreises. Der junge Mann war Ende 2022 nach Deutschland gekommen und hatte 2023 knapp vier Monate bei einer Firma in Karlsruhe gearbeitet, bevor er das Arbeitsverhältnis im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber auflöste und einen Deutschkurs begann.
Als ihm die Beiträge für die OAV, die obligatorische Anschlussversicherung, in Rechnung gestellt wurden, beantragte er deren Kostenübernahme durch das Sozialamt. Ohne Erfolg. Zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung war der junge Mann bereits als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt worden, war also nicht mehr im AsylbLG-Bezug. Allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt fünf Monate lang 232,13 Euro aus seinem Regelsatz und dem Einkommen einer geringfügigen Beschäftigung für die Versicherungsbeiträge aufgewendet.
Das Gericht sah – im Gegensatz zum Ministerium für Justiz und Migration – durchaus eine Rechtsgrundlage für eine Übernahme der Beiträge, nämlich § 6 AsylbLG. Danach können „sonstige Leistungen“ – also solche, die nicht in den AsylbLG-Grundleistungen vorgesehen sind – gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich sind. Dieser Argumentation schlossen sich auch die Sozialgerichte in Heilbronn, Karlsruhe und Stuttgart an.
Gemessen an der Anzahl der Betroffenen erscheint die Anzahl der Klagen gering. Sechs der acht erstinstanzlichen Sozialgerichte im Land nannten auf eine Kontext-Anfrage die Zahl der in dieser Sache eingegangenen Klagen. Zählt man diese zusammen, kommt man auf 50 und 70 Klagen. In allen bisher veröffentlichten Entscheidungen bekamen die klagenden Geflüchteten Recht – auch vor dem Landessozialgericht, das sich am 4. August erstmals mit dieser Thematik befasste.
Trotz der hohen Erfolgschancen und der ohne Rechtshilfe drohenden enormen finanziellen Schäden klagt also nur ein Bruchteil der Betroffenen. Abhilfe könnten die Behörden schaffen, indem sie die einhellige Rechtsprechung bis hin zum Landessozialgericht zum Anlass nehmen, um die Praxis zu ändern. Doch sie bleiben stur.
Ende Juli wandte sich die SPD-Landtagsabgeordnete Dorothea Kliche-Behnke mit einem Brief an Justizministerin Marion Gentges (CDU). Die Tübinger Sozialdemokratin sagte gegenüber Kontext, sie finde es „mehr als bedenklich, dass das Land trotz mehrfacher Rechtsprechung auf seiner Auslegung beharrt“. Die Ministerin müsse erklären, „warum sie gegen alle Widerstände daran festhält, Krankenkassen und Betroffene im Stich zu lassen“.
Die von Staatssekretär Siegfried Lorek (CDU) unterzeichnete Antwort wiederholte weitgehend wortgleich die Argumentation aus dem vorjährigen Rundschreiben: Eine Übernahme der Beitragskosten nach § 6 AsylbLG sei nicht möglich. Eine Abweichung davon sei „auch ausgehend von den von Ihnen angeführten Einzelfallentscheidungen unterschiedlicher Sozialgerichte“ nicht geplant.
„Einzelfallentscheidung“ ist das Zauberwort all derer, die eine rechtswidrige Praxis trotz gerichtlicher Klatsche aufrechterhalten wollen. Bundesinnenminister Dobrindt und seine rechtswidrigen Zurückweisungen an deutschen Grenzen lassen grüßen. Das Justizministerium ließ auf explizite Nachfrage von Kontext offen, was an den „Einzelfallentscheidungen“ so besonders sei, dass sich ihre zentralen Punkte nicht auf andere Fälle übertragen lassen.
Das Sozialgericht Karlsruhe ist irritiert
Die zwölfte Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe zeigte sich angesichts der anhaltenden Uneinsichtigkeit der Behörden zunehmend irritiert. Am 21. Juli entschied die Kammer in gleich vier Fällen zum Thema OAV-Beiträge.
Das Ministerium würde die beklagte Behörde – in diesem Fall das Landratsamt Rastatt – „gleichermaßen wissentlich und willentlich ungestraft rechtswidrige und betrugsartige Methoden anwenden lassen“. Das Gericht ließ es sich aus diesem Anlass auch nicht nehmen, einige grundsätzliche Gedanken dazu loszuwerden, was es für eine Gesellschaft heißt, wenn der Staat regelmäßig im Umgang mit geflüchteten Menschen das Recht bricht und es aufgrund von Gleichgültigkeit keinen öffentlichen Aufschrei dagegen gibt. Es sprach von einer Entwicklung, in der „[...] die freiheitlich-demokratische und sozialstaatliche sowie weltoffene Grundordnung unter dem Deckmantel ihres vorgeblichen Fortbestehens [...] zu einem rechtspopulistisch unterformten und willkürlich geführten Polizeistaat erodiert“.
Das konkrete Problem der Beitragsschulden wird zumindest bald nicht mehr auftreten, denn die Bundesregierung hat eine Lösung parat: Die OAV soll künftig für Personen im AsylbLG-Grundleistungsbezug einfach nicht mehr gelten. Mit dem Jobverlust wird künftig auch die gesetzliche Krankenversicherung enden. Bereits entstandene Beitragsschulden können „im Ermessen der Kassen“ erlassen werden. Keine der von Kontext angefragten Kassen wollte nähere Angaben dazu machen, ob und inwiefern sie von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen beabsichtigen.
„Einfach nur schäbig“, findet Anja Bartel vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg die Gesetzesänderung: Dies sei im Einklang mit der Haltung einer Bundesregierung, der es nur noch darum gehe, migrationspolitische Härte zu demonstrieren, und die immer noch am Trugschluss festhalte, möglichst unmenschliche Lebensbedingungen würden Menschen von der Flucht abhalten.
Die Pressestelle des Ortenaukreises schätzt, dass eine Übernahme der OAV-Beiträge wahrscheinlich weniger Aufwand für die Kommunen bedeuten würde als die beabsichtigte Lösung mit der Gesundheitsversorgung nach dem AsylbLG. Bemerkenswert, wird doch die „Entlastung der Kommunen“ ansonsten mantraartig von der Bundesregierung bemüht, um menschlich indiskutable und rechtlich mindestens fragwürdige Praktiken von Zurückweisungen bis hin zur Einschränkung des Familiennachzugs zu rechtfertigen. Möglicherweise haben Bundes- und Landesregierung zu diesem Prinzip ein genauso flexibles und instrumentelles Verhältnis wie zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit an sich, die in der Migrationsdebatte je nach Interessenlage wahlweise als Totschlagargument dient oder vollkommen egal sein kann.
Nicht anders verhält es sich mit Betrug im Zusammenhang mit Sozialleistungen. Menschen, denen unterstellt wird, ein paar Euro zu bekommen, die ihnen vielleicht nicht zustehen, gelten als eines der dringendsten politischen Probleme unserer Zeit. Ein mutmaßlich schwerer Betrug mit staatlichen Stellen als Täter und potenziell einer vierstelligen Anzahl an Geschädigten zeitigt bislang kaum politische und mediale Resonanz.
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