Politik: Schon wieder der olle Bahnhof
Der Begriff ist sperrig, die Chance historisch: Das Bündnis „Bahnhof mit Zukunft“ will ein „kassatorisches Bürgerbegehren“ gegen die geplante Bebauung des unmittelbaren Gleisvorfelds einleiten, das durch Stuttgart 21 frei werden soll. Bis Mitte Oktober müssen 20.000 Unterschriften beisammen sein.
Von Johanna
Henkel-Waidhofer
Es ist nicht so, dass es den Kritiker:innen von Stuttgart 21 an enttäuschenden Erfahrungen mit Bürgerbegehren mangelt. Ein Begehren mit dem Ziel, das Engagement der Stadt Stuttgart für das Milliardenprojekt zu beenden, scheiterte 2007, trotz der fast 62.000 Unterschriften. Ein zweites nahm ebenso erfolglos die Kostenexplosion ins Visier, drei weitere folgten in den vergangenen Jahren – auch sie ohne Erfolg.
Diesmal sei alles anders, sagt Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS). Im Kontext-Gespräch erklärt der Vorsitzende der Fraktionsgemeinschaft Die Linke SÖS Plus im Stuttgarter Gemeinderat auch, warum. Erstmals ermögliche die geplante Aufstellung eines Bebauungsplans für eine wichtige Teilfläche des Gleisvorfeldes ein Bürgerbegehren gegen diese Bebauung durchzuführen. Denn: Sie verbaue die Zukunft. Eine Bebauung verhindere die vermutlich noch dringend notwendigen Verbesserungen des Milliardenprojekts in Schieflage – von einer künftigen Kombibahnhoflösung bis zur leistungsfähigen Anbindung der Gäubahn.
Konkret geht es um das Areal mit der Bezeichnung A2. Es gehört zum unmittelbaren Gleisvorfeld des noch bestehenden 16-gleisigen Kopfbahnhofs und liegt parallel zum schon bestehenden Europaviertel zwischen LBBW-Zentrale und Milaneo. Immer wieder wird es in der Berichterstattung fälschlicherweise dem Rosensteinviertel zugerechnet, für das es schon etwas fortgeschrittenere Planungen gibt – das aber auf dem Bauabschnitt B entstehen soll. Für A2 dagegen gibt es bislang noch keine konkreten Planungen – und bestehende Visualisierungen beschränken sich darauf, zwei Reihen gleichförmiger Gebäudewürfel auf das Areal zu setzen.
Die Stadt hat Großes mit A2 vor, wenn irgendwann mal die Gleise abgeräumt sein sollten. Jedenfalls in der Theorie und der altbekannten Hochglanz-PR: „Als Pendant zum bestehenden Europaviertel mit dem Schwerpunkt auf Büronutzungen soll das neue Europaquartier seinen Schwerpunkt auf Wohnnutzung mit viel urbanem Grün legen“, heißt es in der Bekanntmachung zum Einstieg in das Bebauungsplanverfahren.
Rückabwicklung des AEG macht Weg frei für Bebauung
1.380 bis 1.670 Wohnungen sollten dort entstehen, „ergänzt durch soziale, gewerbliche und gemeinschaftliche Nutzungen“. „Ein wesentliches städtebauliches Element“ werde die künftige Athener Straße bilden, als „öffentlich zugängliches grünes Spiel-, Sport- und Bewegungsband“. „Drei überschaubare Nachbarschaften“ und „zwei Bildungsstandorte“ sollen, wie wir erfahren, das Quartier gliedern und beleben, und „lebendige Erdgeschosszonen“ bieten „öffentliche Angebote in Richtung Schlossgarten“.
Den Weg für eine Bebauung hat die neue Bundesregierung erst kürzlich freigemacht: In der 14. Bundestagssitzung Ende Juni wurde die Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) rückabgewickelt. Die war erst im Oktober 2023 in Kraft getreten und beinhaltete eine Neufassung von Paragrafen 23 AEG, die es deutlich erschwerte, nicht mehr genutzte Gleisflächen zu entwidmen und neu zu nutzen, sprich: zu bebauen (Kontext berichtete). Nach der Entscheidung vor zwei Wochen jubilierte Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU).Dass sich der glühende Tiefbahnhof-Fan da mal mittel- und langfristig nicht täuscht. Kurzfristig jedoch wollen die „Tunnelparteien“, wie Rockenbauch die S-21-Anhänger:innen im Gemeinderat nennt, die Steilvorlage aus Berlin „unverzüglich“ versenken. Am Dienstag vergangener Woche brachte das Amt für Stadtplanung und Wohnen den Aufstellungsbeschluss für A2 in den Gemeinderat ein. Und schon nächsten Dienstag, dem 15. Juli, soll endgültig über die Zukunft dieses Geländes entschieden werden.
Stuttgart braucht unbestritten Wohnungen. Nur entstünden sie besser anderswo, weil die Bahnnutzer:innen wiederum genügend Gleise brauchen, damit der Verkehr funktioniert. Dass der Tiefbahnhof ohne eine Ergänzung nicht auskommt, haben bereits Heiner Geißler und der Schweizer Verkehrs-Guru Werner Stohler mit ihrem im Juli 2011 präsentierten Vorschlag „Frieden in Stuttgart“ unterstrichen. Rockenbauch verweist 14 Jahre später auf das „tägliche Chaos mit Verspätungen, Fernwanderwegen und Stammstreckensperrungen“ in und um Stuttgart.
Bisher haben solche und andere Argumente nicht gezogen, nicht beim DB-Management, nicht unter den unbelehrbaren Befürworter:innen in der Politik, nicht vor Gerichten. Das Begehren, das auf den Namen „Bahnhof mit Zukunft“ hört, zielt auf andere, auf direkt Betroffene: Auf die Reisenden und die Pendler:innen, die mit Verspätungen kämpfen, auf die tagtäglich im Stau Stehenden, auf die unter der hässlichen Riesenwunde im Stadtzentrum Leidenden, auf jene Bürger:innen, denen gerade angesichts der Kostenexplosion und des Zustands der Bahn vielleicht doch Zweifel gekommen sind.
„Es geht nicht um die alten Kämpfe ‚oben oder unten‘ oder um die Frage ‚Gleise oder Wohnungen‘, sondern darum, dass die zukunftsfähige Entwicklung des Bahnknotens Stuttgart nicht durch die Bebauung auf einer kleinen Teilfläche verbaut wird“, so der SÖS-Stadtrat. Und fügt hinzu: „Die Welt steht in Flammen, und ich komme euch wieder mit unserem ollen Bahnhof“ – aber es bestehe jetzt eben eine einmalige Möglichkeit.
Tatsächlich liegen Gerichtsentscheidungen vor, die zumindest die Chance für ein erfolgreiches Begehren zu eröffnen scheinen. So hat sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Februar 2024 mit einem Bebauungsbeschluss zu Lasten von Bewohner:innen, unter anderem wegen Lärmbelästigung und Naturschutzes befasst. Es ist ein Fall in einer anderen Kommune, und Gleisflächen spielen keine Rolle, aber in dem 28 Seiten starken Urteil fällt auch dieser entscheidende Satz: „Jeder ‚weichenstellende‘ Grundsatzbeschluss, der eine Planung einleitet oder eine Planungsstufe abschließt, ist bürgerbegehrensfähig.“
Drei Monate zum Unterschriftensammeln
Fällt der Beschluss für das Areal A2 am 15. Juli tatsächlich im Gemeinderat, löst dieses Datum eine Drei-Monats-Frist aus, in der 20.000 Unterschriften gesammelt werden müssen. Derzeit werden dafür Helfer:innen gesucht. Rockenbauchs Rechnung: Sollte es gelingen, 200 Aktive zu gewinnen, müsste jede und jeder binnen drei Monaten hundert Unterschriften sammeln, pro Woche weniger als zehn. Ein Trägerkreis formiert sich gerade. Ein Brief zur Ankündigung des Vorhabens wurde am 8. Juli an OB Nopper übergeben, unterzeichnet von Rockenbauch und dem Landesvorsitzenden des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) Gero Treuner.
Die baden-württembergische Gemeindeordnung bedient sich ebenfalls des Wörtchens „unverzüglich“, denn auf diese Weise muss die Entscheidung über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens fallen, „spätestens aber innerhalb von zwei Monaten“. In Absatz vier wird der weitere Verlauf erläutert: „Der Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt.“ Das Aktionsbündnis hält es allerdings für wenig wahrscheinlich, dass die satte S-21-Mehrheit im Gemeinderat ihre A2-Pläne einfach fallen lässt. Für diesen Fall müsste die Bevölkerung über das Begehren „Bahnhof mit Zukunft“ abstimmen. Das wiederum könnte am 8. März 2026 stattfinden, dem Tag der nächsten Landtagswahl.
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