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PolitikImmobilienträumein Gefahr

Die Aufregung in Stuttgart ist groß darüber, dass eine Änderung des Eisenbahngesetzes die Bebauung der Gleisflächen, die durch S 21 frei werden sollen, vereiteln könnte. Dabei ist das Klagen über ausgebremste Wohnbebauung eine Phantomdebatte.

Könnte durch die Novelle des Eisenbahngesetzes unbebaut bleiben: Abstellbahnhof am Rosensteinpark. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Oliver Stenzel

Es ist nicht so, dass das von FDP-Mann Volker Wissing geführte Bundesverkehrsministerium immer nur den Autoverkehr gegenüber anderen Mobilitätssparten bevorteilt. Im Oktober 2023 schaffte es ein geänderter Paragraf des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) durch sämtliche Institutionen, der tatsächlich eine für den Bahnverkehr sehr interessante Neuerung bedeutet. Konkret: Paragraf 23 des AEG, der die „Freistellung von Bahnbetriebszwecken“ regelt, wurde modifiziert. Damit stillgelegte Gleisflächen freigestellt und einer neuen Nutzung, etwa Bebauung, zugänglich gemacht werden können, bedarf es fortan eines „überragenden öffentlichen Interesses“. Sonst geht es nicht.

Und ein „überragendes öffentliches Interesse“ ist nur unter sehr bestimmten Voraussetzungen gegeben: Wenn die Neunutzung dem Klimaschutz dient, der Energieversorgungssicherheit, einer funktionierenden Gesundheitsversorgung, der Landesverteidigung oder auch mal dem Bau von Fernstraßen, wie die Würzburger Verwaltungsrechts-Kanzlei Baumann in einem Gutachten zu der Novelle darstellte. Wohnbebauung erfüllt die Kriterien nicht.

Eine überaus sinnvolle Änderung vor dem Hintergrund, mehr Personenverkehr auf die Schiene zu bringen. Denn das geht langfristig nur, wenn entweder neue Strecken gebaut oder alte, stillgelegte reaktiviert werden. Für Letzteres hat das baden-württembergische Verkehrsministerium schon vor einigen Jahren ein Programm aufgelegt (Kontext berichtete). Bei Reaktivierungen gibt es allerdings viele Hindernisse. Ein mögliches Problem ist, dass alte Trassenflächen nun in privatem oder kommunalem Besitz und schon neu genutzt sind, zum Beispiel für Bebauung, Straßen oder Landwirtschaft, wie etwa bei der vom Land geprüften Leutkirch-Isny-Bahn. Mit der Folge, dass für eine Reaktivierung eine neue Trasse gebaut werden müsste. Dies würde durch die Verschärfung des Paragrafen 23 nun erheblich erschwert.

Baubürgermeister nennt die Novelle verfassungswidrig

Für Jubel sorgte die Änderung aber zunächst nicht, sondern für großen Unmut, vor allem in Stuttgart: Durch die Neufassung des Paragrafen wäre eine Bebauung der Gleisflächen, die durch die Tieferlegung von Bahnhof und Strecken im Rahmen des Projekts Stuttgart 21 irgendwann frei werden sollen, unmöglich gemacht, und das geplante Rosensteinquartier hinfällig. Was für die Stadt auch deshalb unangenehm wäre, weil sie die Gleisflächen der Bahn bereits im Jahr 2001 für 459 Millionen Euro abgekauft hat, um dem Staatskonzern die Weiterverfolgung von S 21 schmackhaft zu machen.

Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper attackierte denn auch den Bundestag wegen der Novelle scharf: Der Gesetzgeber sei sich „ganz offensichtlich“ der Tragweite seiner Entscheidung nicht bewusst gewesen, so Nopper, „oder er befand sich jedenfalls mehrheitlich in einem Zustand kollektiver legislativer Verirrung“. Auch der Stuttgarter Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne) wetterte gegen die Verschärfung: Die Neufassung des Paragrafen 23 AEG sei „verfassungswidrig“, aufgrund der „verfassungsrechtlich verankerten kommunalen Selbstverwaltung“. Dumm dabei: Die Flächen gehören zwar der Stadt, aber einen Freistellungsantrag hat sie noch nicht gestellt. Das kann sie auch noch gar nicht, denn es fahren ja noch Züge drauf – und wie lange noch, hängt davon ab, wann und ob Stuttgart 21 fertig wird, worüber angesichts der bisherigen Entwicklung Prognosen riskant sind. Die Bahn hatte erst vor kurzem den angepeilten Eröffnungstermin um ein Jahr auf Dezember 2026 verschoben.

Immer ein Immobilienprojekt, Verkehr nachrangig

Die Aufregung in Stuttgart ist insoweit nachvollziehbar, da bei S 21 immer der Immobilien- und Stadtentwicklungsaspekt die treibende Kraft war. Es ist also keine Polemik, das Projekt ein Immobilienprojekt zu nennen, das sagen Branchenvertreter:innen selbst Mobilitätsaspekte spielten hingegen nie eine ernstzunehmende Rolle.

Diese Präferenzen zeigen sich aktuell wieder deutlich bei der Debatte um den verschärften Paragrafen 23. Für Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) und Baubürgermeister Pätzold scheint bei der Klage über die vermeintliche Verfassungswidrigkeit nur der Immobilienaspekt zu zählen. Ein nicht ganz neues Phänomen, wie Pätzolds Position zu den Folgen einer Gäubahnabkopplung wegen S 21 schon 2020 zeigte: Es gebe 4.500 Menschen in Stuttgart, die auf eine Wohnung warteten, sagte er damals, „und denen soll ich jetzt erklären: dafür kriegt ihr eine bessere Schienenverbindung ins Gäu?“

So sehr die Gesetzesänderung von S-21-Fans beklagt wird, so sehr wird sie von Kritikern des Projekts, wie dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, begrüßt. Dem eigentlichen Motiv von S 21 sei damit der Boden entzogen, sagt Bündnissprecher Martin Poguntke. „Wir haben in Stuttgart 21 schon immer vor allem ein Immobilienprojekt gesehen, bei dem ein funktionierender Bahnhof kein Kriterium war.“ In der Novellierung des AEG sehe das Aktionsbündnis, genauso wie viele Verbände, einen richtigen Schritt in Richtung Verkehrswende.

Grüner Verkehrsexperte Gastel: dafür und dagegen

Im Verkehrsausschuss des Bundestages, auf dessen „expliziten Wunsch“ laut Bundesverkehrsministerium die Verschärfung von Paragraf 23 zustande gekommen sei, hatte die Auswirkungen auf S 21 dem Vernehmen nach kaum jemand auf dem Schirm. Der Nürtinger Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel, für die Grünen im Ausschuss, aber offensichtlich schon. So argumentierte Gastel bereits am 16. Juni bei einer Veranstaltung in Singen: „Wir haben Entwidmungen von Eisenbahnflächen erschwert, indem wir die Beweislast umgedreht haben. Wer Schieneninfrastruktur auflösen und aus der rechtlichen Situation herausnehmen möchte, tut sich heute wesentlich schwerer. Wir wollen nämlich als Ampel-Koalition ausbauen und zusätzliche Infrastruktur schaffen.“ Und er fügt hinzu: „Das könnte auch für Stuttgart 21 noch ein Thema sein.“

Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Debatte um das Thema, die begann in Stuttgart erst so richtig mit einer Anfrage der Gemeinderatsfraktionsgemeinschaft Die FrAktion vom 24. Juli. Bereits davor schien Gastel seine Position angepasst zu haben: „Wir werden einer Bebauung des Gleisvorfelds nicht generell im Wege stehen“, sagte er am 14. Juli. Dafür sei man zur – erneuten – „Änderung des Eisenbahngesetzes bereit“, auch wenn Gastel als Voraussetzung den Nachweis einer gesteigerten Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs verlangt.

Angesichts solcher Überlegungen wiederum warnt das Aktionsbündnis vor einer „Lex Stuttgart 21“, um das Immobilienprojekt doch noch zu retten. Es wäre nicht das erste Beispiel einer Intervention oder großzügigen Auslegung von Richtlinien. So etwa bei der mit 15 Promille für einen Bahnhof dieser Größe beispiellosen Gleisneigung in der künftigen Station, obwohl das Eisenbahnbundesamt (Eba) eigentlich maximal 2,5 Promille vorschreibt. Die für Ausnahmen dieser Vorschrift festgelegten Sicherheitsvorkehrungen sehen die Kritiker in Stuttgart nicht gewährleistet.

Mittlerweile hat sich über die Bewertung der AEG-Verschärfung eine teils hitzige Diskussion entwickelt. Der baden-württembergische FDP-Landtagsabgeordnete Hans Dieter Scheerer forderte Anfang August von seinem Parteifreund Volker Wissing eine rechtliche Einordnung und gegebenenfalls Entschärfung von Paragraf 23. Der Deutsche Städtetag ist alarmiert und bittet Kommunen um Rückmeldung, ob schon Freistellungen abgelehnt und Bauprojekte zum Stillstand gekommen wären. Und Thomas Möller, Hauptgeschäftsführer der Bauwirtschaft Baden-Württemberg, nennt das Lob des Aktionsbündnisses für erschwerte Freistellungen „an Zynismus nicht zu überbieten“. Denn in der Landeshauptstadt würden die Flächen für das Rosensteinquartier angesichts großer Wohnungsnot dringend gebraucht.

Erst ab Mitte der 2030er könnte gebaut werden

Die drastische Wortwahl Möllers verdeckt, dass es sich hier im Grunde um eine Phantomdebatte handelt. Denn selbst bei günstigen Szenarien für eine Fertigstellung des Tiefbahnhofs (mit Blick auf die Vergangenheit mit Vorsicht zu genießen) könnte frühestens Mitte bis Ende der 2030er-Jahre mit der Bebauung der Gleisflächen begonnen werden (Kontext berichtete). Wie lange die Altlastenbeseitigung auf den Arealen dauern wird, ist eine große Unbekannte. Und wie dann in rund 20 Jahren die Wohnraumsituation in Stuttgart sein wird, weiß keiner.

Zudem weisen Kritiker immer wieder zurecht darauf hin, dass es schon jetzt diverse ungenutzt brach liegende Flächen in Stuttgart gebe, die für Wohnungsbau genutzt werden könnten. Der Blogger Fritz Möbus weist etwa auf die Brache hinter der ehemaligen Bundesbahndirektion hin, auf der seit Jahren nichts geschehe. Und das Aktionsbündnis nennt in einer Replik auf Möllers Kritik das seit 15 Jahren ungenutzte Vaihinger IBM-Areal und das EnBW-Areal. Und es verweist zudem darauf, dass Teile des geplanten Rosensteinquartiers, des sogenannten C-Areals, schon jetzt entwickelt werden könnten. Darauf hatte 2011 ein damals S-21-kritischer Architekt in einem Zeitschriftenartikel hingedeutet: So könnte auf einem Großteil des C-Areals völlig unabhängig von Stuttgart 21 und zudem sehr schneller Wohnraum entstehen, oder auf dem ganzen oder einem Teil des Abstellbahnhofs (B-Areal). Auf diese Weise stünde zwar „etwas weniger Fläche“ für die Stadtentwicklung zur Verfügung, „aber diese Flächen haben deutlich geringeren Kostendruck und sind ab sofort bebaubar – nicht in einer ungewissen Zukunft“. Der Autor von damals hieß Peter Pätzold, ist heute Stuttgarter Baubürgermeister und will von solchen Überlegungen nichts mehr wissen.

Und natürlich, ein solches Vorgehen würde eine Änderung der bisherigen Planungen erfordern. Aber die Umsetzung wäre unabhängig von einem nicht kalkulierbaren Fertigstellungstermin des Tiefbahnhofs. Wobei angesichts der Klimaentwicklung ohnehin zu überlegen wäre, ob die Gleisflächen, so sie denn irgendwann frei werden, überhaupt bebaut werden und nicht stattdessen Grünflächen bleiben sollten – wofür etwa der ehemalige Stuttgarter Stadtklimatologe Jürgen Baumüller plädiert.

Das ist alles einstweilen Zukunftsmusik. Vom Bundesverkehrsministerium ist jedenfalls zu hören, dass es betreffend Paragraf 23 AEG aktuell eine Übergangsregelung prüfe. Das Eisenbahnbundesamt könnte zunächst über jene Freistellungsanträge entscheiden, die noch vor der Novelle im Oktober 2023 eingereicht wurden, was aktuell rund 130 Projekte betrifft. Stuttgart wäre aber davon nicht betroffen – da es ja noch keine Freistellung beantragt hat.

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