piwik no script img

Poliert ins Tschechow-Museum

Zum Abschied Rosen und noch mal richtig-richtiges Schauspielertheater: Jürgen Flimm zeigt mit den „Drei Schwestern“ seine letzte Regiearbeit als Intendant des Thalia  ■ Von Ralf Poerschke

Der Höhepunkt der Inszenierung kam nach dem Vorhang. In den vorderen Logen waren Angestellte mit Sträußen roter Rosen postiert, und nachdem das Ensemble den ihm zugdachten Beifall empfangen hatte, trat der Intendant auf, der hier gerade seine letzte Regiearbeit in dieser Funktion präsentiert hatte, und nahm eine herzlich warme und pompös kitschige Blumendusche; aus dem Schnürboden regnete es noch zusätzlich Blütenblätter. Hinter ihm war bereits das gesamte Produktionsteam aufgelaufen, so dass Beifall von allen Seiten garantiert war. Beifall freilich nur zum geringsten Teil für die vergangenen vier (!) Stunden, sondern für die vergangenen 15 Jahre, da er das Thalia Theater mit über weite Strecken gutem künstlerischen und einem stets sehr guten Publikumserfolg geleitet hatte.

Die vorangegangene Aufführung war die sicherste Sache der Welt. Keine Experimente zum Schluss, nicht noch mit Strauß oder gar Handke – das hätte man sich mal vorstellen müssen: Handke! – ein neues Kapitel beginnen, sondern dem Begonnenen, dem Bewährten seinen letzten Schliff geben und dick Politur auftragen. Der Regisseur Jürgen Flimm hat seinen Anton Tschechow von vorne bis hinten studiert und begriffen. Onkel Wanja und Der Kirschgarten hatte er schon Anfang der 80er Jahre in Köln inszeniert und dann an der Alster 1989 den Platonow nachgelegt sowie 1995 abermals Onkel Wanja. Die Drei Schwestern fehlten ihm noch in der Sammlung, und außerdem ist das ja nicht nur ein Stück über die Qualen des zu langen Verweilens, sondern auch eines über den Abschied.

Abschied nehmen heißt es nicht nur von Jürgen Flimm. Annette Paulmann verlässt das Thalia zum Ende der Saison in Richtung Wiener Burgtheater; sie zieht als Máscha noch einmal alle Register ihres psychologischen Theaterkönnens und jongliert virtuos mit kaltem Spott und aufrichtigen Weinkrämpfen. Und Will Quadflieg hat den allerletzten Premierenauftritt seines langen Bühnenlebens – natürlich als greiser Kanzleiwächter Fera-pont, den er mit kluger Komik auszustatten weiß. Überhaupt alle Rollen kann Flimm an diesem Abend nahezu ideal besetzen: die springlebendige Irína mit Alexandra Henkel, die ausgezehrte Olga mit Ulli Maier, den Schwächling Fjódor mit Achim Buch, die berechnende Schlampe Natalja mit Sandra Flubacher, den fatalistischen Tschebutykin mit Michael Altmann, den ahnungslosen Kulygin mit Christoph Bantzer, den stolzen Tusenbach mit Dietmar Koenig, den dummdreisten Soljónyj mit Jan Schütte, die zähe Anfíssa mit Katharina Matz, die Spaßvögel Fedótik und Rodé mit Jörg Ratjen und Björn Grundies und zu bester Letzt den jenseits von Gut und Böse dauerphilosophierenden Werschinin mit Hans Christian Rudolph.

Gäbe es hierzulande ein Tschechow-Museum, gehörte diese Inszenierung als ein Musterbeispiel „werkgetreuer“ Aufführungspraxis dort hinein. (Chefdramaturg Volker Canaris tat das Seinige und füllte das Programmheft mit Historischem, Biografischem, Autobiografischem und Literarischem von und zu Tschechow und spickte es mit zwei theaterwissenschaftlichen Beiträgen, von denen der eine aus dem Jahre 1968 stammt und der andere von 1963.) Flimm führt dermaßen perfekt hermetisch Regie, dass einige der großen Themen der Drei Schwestern den Zuschauer ein ums andere Mal nachgerade leibhaftig anfallen: Langeweile, Erschöpfung, Müdigkeit, das Egale. Der Rest ist richtig-richtiges Schauspielertheater, wie das Thalia-Publikum es halt sehr gern hat. Oder wie sagt man auch in Hamburg: Tschüß!

23., 25., 29., 30. Dezember, 20 Uhr, Thalia Theater

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen