: „Polen ist nicht reif für Europa“
Ein Gespräch mit dem Regisseur Wiktor Grodecki über die autoritäre Struktur der polnischen Gesellschaft und die Korruption unter den Filmschaffenden. Seine Stanisław-Witkiewicz-Verfilmung „Nienasycenie“ (Unersättlichkeit) läuft im Panorama
INTERVIEW CLAUS LÖSER
taz: Stanisław Witkiewicz ist neben Witold Gombrowicz und Bruno Scholz einer der herausragenden Vertreter der literarischen Subkultur Polens zwischen den Kriegen. Wie wird sein Werk heute wahrgenommen?
Wiktor Grodecki: Zu Lebzeiten war er kaum bekannt, wurde nicht gedruckt. Das Vorkriegs-Polen war quasi ein faschistischer Staat mit einer undemokratischen und antisemitischen Regierung. Witkiewicz sah mit dem Einmarsch der Sowjettruppen am 18. September 1939 seine düstersten Visionen bestätigt und nahm sich am selben Tag das Leben. Nach 1945 wiederholte sich die Ablehnung seines Werkes, diesmal durch die Stalinisten. Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger gab es im Rahmen der Entstalinisierung eine kurze Phase, in der seine Texte gedruckt und seine Theaterstücke aufgeführt wurden. Das hörte später wieder auf. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus schien es, als könnten nun endlich alle Bücher veröffentlicht werden. Aber die Gesamtausgabe wurde nie abgeschlossen, weil das Kulturministerium seine Zuschüsse eingefroren hat.
Die Handlung des Buches und Ihres Filmes entwirft ein Polen am Rande der Apokalypse. Seine Eliten aus Wirtschaft, Kultur und Militär befinden sich auf einem permanenten Karneval des Untergangs. Dem Ansturm einer riesigen Armee haben sie nur lächerliche Posen entgegenzusetzen. Mit der Teilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurden diese Visionen 1939 blutige Wirklichkeit. Das aktuelle Polen steht nicht gerade vor einem Überfall, sondern kurz vor der Aufnahme in die EU. Sehen Sie dennoch Parallelen?
Wir beschreiben in unserem Film eine Gruppe von Menschen, die trotz der immensen, von außen drohenden Gefahren jede Verantwortung ablehnt. Sie hoffen alle auf Rettung, unternehmen aber nichts. Irgendjemand wird uns schon helfen! Die Armee wird uns retten oder unsere reichen Freunde im Ausland oder irgendeine Prinzessin. Nicht ich, nicht du, aber irgendjemand irgendwo wird sich unserer Probleme annehmen. Diese Verantwortungslosigkeit ist typisch für eine autoritär strukturierte Gesellschaft.
Und sehr viel anders sieht es heute in Polen auch nicht aus. Alle warten darauf, gesagt zu bekommen, was geschehen soll. Wir warten darauf, dass jemand die Richtung vorgibt, damit wir folgen können. Das hat natürlich auch mit der Kirche zu tun: Je weniger Arbeit oder Geld es gibt, umso mehr rennen die Leute in die Kirche, um dafür zu beten.
Dem Held in unserem Film scheinen sich am Anfang alle Möglichkeiten zu bieten, alles anders zu machen. Aber sein Kontakt mit der verderbten Gesellschaft verdirbt auch ihn, er verliert seine Unschuld und er ist zuletzt auch nicht besser als sein Vater es war. In Polen haben vor allem junge Leute die Botschaft meines Filmes sehr genau verstanden. Sie kamen nach der Vorführung zu mir und meinten: „Klar, das ist ein Film über uns.“
Sind Sie ein Europa-Skeptiker?
Nein, wirklich nicht. Ich denke nur, dass man sein eigenes Haus erst einmal in Ordnung bringen sollte. Polen ist noch nicht reif für Europa. Die Machthaber wollen sich damit nur ihre eigenen Vorteile sichern. Es sind die gleichen wie vor 1989.
Ihr Film wurde in Litauen gedreht und in Tschechien postproduziert. Hat dies auch politische Gründe?
Ich habe versucht, vom polnischen Fernsehen Geld zu bekommen. Als ich dort die Flure entlanggegangen bin, habe ich an den Türen die gleichen Namen gelesen wie früher. Nichts hat sich geändert. Man hat mir nicht nur keine Unterstützung gegeben, man hat sogar versucht, den Film zu behindern und zu verhindern. Wir konnten den Film nur durch die Unterstützung der Kollegen in Litauen und Tschechien realisieren und weil Cezary Pazura, der beliebteste polnische Schauspieler, die Hauptrolle spielt. Er und andere Mitwirkende wurden von Funktionären am Telefon dazu angehalten, das Projekt zu boykottieren.
Gab es aus der älteren Generation Kollegen, die sie unterstützten? Was ist mit Andrzej Wajda oder Krzysztof Zanussi?
Die sind alle völlig korrumpiert. Wajda ist ein Denkmal der Filmgeschichte, macht sich aber inzwischen gemein mit dem neuen System. Die integren Leute sind entweder im Ausland, wie Roman Polański und Zbigniew Rybcziński, oder tot, wie Krzysztof Kieślowski und mein Lehrer Wojciech Has. Leon Niemczyk spielte in Polańskis Debüt „Das Messer im Wasser“ 1962 die Hauptrolle und spielt auch in unserem Film mit. Er ist inzwischen über 80 und einer der ganz wenigen Künstler dieser Generation, die sauber geblieben sind. Nach wie vor lebt er in einer kleinen Wohnung in Łódź und macht nur das, was ihn interessiert.
Donnerstag, 18.45 Uhr, Zoo Palast; Freitag, 11.30 Uhr, Cinemaxx 7