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Point 'n' ClickDas komplette Acid-Studio im PC

■ Ihre Softwareversion macht die TB-303 zum Folkinstrument der 90erJahre

Die moderne Welt ist voller Zahlenkombinationen, die meist recht schnöde behandelt werden. Manche verfügen dagegen über eine fast schon mythische Aura. Eine der magischen Zahlen der letzten Dekade ist die 303. Was ohne weiteres für eine kleine Schwester aus der Boeing-Familie gehalten werden könnte, ist in Wirklichkeit ein analoger Synthesizer aus dem Hause Roland, der als maschineller Ersatz eines Bassisten konzipiert wurde. Da die TB-303, wie der volle Name der Kiste lautet, aber alles andere tut, als ordentliche Bassklänge zu generieren, und außerdem kompliziert zu programmieren ist, wurde schon bald die Produktion eingestellt.

Bis 1983 wurden knapp 20.000 Geräte produziert. Seitdem waren sie für ein paar Dollar, Pfund oder Mark in den Secondhandshops der Welt zu haben. Dort verstaubten die Boxen mit den kleinen Drehreglern noch immer in den Regalen, wäre man in Chicago, der Geburtsstadt von House Music, während der Suche nach immer neuen Sounds nicht irgendwann über ihre ganz speziellen Qualitäten gestolpert.

Als DJ Pierre und seine Kollegen 1987 an den Knöpfen der silbernen Schachtel drehten, taten sie nur das, was nach Aussagen von Spezialisten sowieso die wahre Bestimmung der 303 ist: Unter Ignoranz der Bedienungsanleitung so lange improvisieren, bis der Zufall im Zusammenspiel mit den zahllosen Designfehlern in den Filtern der 303 eine jener zirpenden Sequenzen ausspuckt, denen sich Menschen offensichtlich nicht entziehen können. Die 303 ist in Technologie gefrorener Jazz.

Die DJ-Pierre-Sequenz wurde von Phuture unter dem Titel „Acid Tracks“ herausgebracht und regierte in Kürze die Tanzböden. Die in den folgenden Wochen und Monaten dann zu Tausenden produzierten Acid-Stücke verdankten sich dem Wissen um das nötige Werkzeug, das sich schnell unter den DJs und Produzenten der Stadt verbreitet hatte. Seitdem wurden auf den Schaltungen der 303 ganze Techno- Schulen gebaut, die 303 wurde zum teuren Statussymbol. Dagegen schafft jetzt eine digitale Softwareversion des Klanggenerators Abhilfe.

Die ReBirth RB-338 des schwedischen Umternehmens Propellerheads stellt zwei 303s und einen Drumcomputer namens TR-808 – mythische Zahlenkombi Nr. 2 – zu einem kompletten Acid-Studio zusammen. Ihren ziemlich authentischen Sound verdankt die Anwendung der Tatsache, daß die Klänge der Roland-Maschine nicht etwa gesampelt, sondern durch mathematische Entsprechungen der 303-Filter wie im Original errechnet werden.

Als Propellerheads Ende vergangenen Jahres eine erste Demoversion zum Download via Internet freigab, wurden über zwei Millionen Zugriffe registriert. UserInnen sahen sich einer graphischen Benutzeroberfläche gegenüber, die die Geräte im Originaldesign repräsentiert, eingerahmt durch ein Rack aus virtuellem Ebenholz. An den Knöpfen wird hier mit der Maus gedreht, und bald stellt sich das Aha-Erlebnis ein: So einfach ist das also!

Während bereits die Demo ganze Wohngemeinschaften vor dem Bildschirm zu versammeln vermochte, kursieren im Netz inzwischen gecrackte Vollversionen, die ihrerseits zu mutieren beginnen und mit neuen Features aufwarten. Entsprechende Bedienungsanleitungen finden sich ebenso im Netz wie komplette Historiographien der Maschine.

So wird der hanebüchene Mythos von den demokratischen Ursprüngen von Techno in Sachen Kapitalaufwand und Zugriff auf merkwürdige Weise durchs Internet eingelöst: In jedem Kinderzimmer eine 303, die damit wohl endgültig zum Folkinstrument der 90er geworden ist.

1987 hatte DJ Pierre seine 303 übrigens durch Marshall Jefferson überreicht bekommen. Völlig entnervt durch die Acid-Inflation, die er damit unfreiwillig ausgelöst hatte, zog Jefferson die Notbremse: Er erfand mit Deep House einfach ein neues Genre. Ulrich Gutmair

http://www.propellerheads.se , ReBirth 338 kostet via Internet $179 (ohne Versandkosten)

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