■ Warnstreiks gegen die ganze Linie der Wirtschaftspolitik: Plus oder minus – das ist die Frage
Die Forderungen sind eher traditionell: 4,5 Prozent mehr bei einem allgemeinen Produktivitätsanstieg von 2 Prozent und einer Inflationsrate von 1,5 Prozent plus etwas Spielraum für Verhandlungspoker. Dagegen proben die öffentlichen Arbeitgeber die Revolte: Nullrunde, Arbeitszeitverlängerung, Einkommenskürzungen bei Krankheit, keine weitere Angleichung der Ost-Einkommen. Plus oder minus, das ist hier die Frage.
Aus der Sicht von Innenminister Manfred Kanther ist die Tarifrunde das Junktim von Bonner Sparpaket und Standortpolitik. Im Zentrum steht nicht die Neuverschuldung, sondern die gewünschte Senkung der Abgabenlast für die Unternehmen, damit die Ausgaben- und Abgabenquote trotz der Vereinigungslasten bis zum Jahr 2000 auf das Niveau von 1989 gesenkt und damit die vermeintlich geknebelten Markt- und Wachstumstriebe enthemmt werden. Sicher, die Staatsverschuldung hat sich in Deutschland seit der Vereinigung verdoppelt; aber wirklich problematisch ist nur das um Konjunktureinflüsse bereinigte strukturelle Defizit, das nicht besonders hoch ist. Hoch würde es nur dann, wenn man wie geplant den Solidaritätszuschlag, die Erbschafts-, Vermögens-, Gewerbekapitalsteuer etc. senkt oder abschafft.
Die Standortpolitik zielt auf Abbau der Lohn- und Lohnnebenkosten zwecks Verbesserung der internationalen Wettbewerbsposition. Der öffentliche Dienst soll die Bruchstelle bilden für eine Wende in der deutschen Tariflohnpolitik insgesamt. Zugleich will man via Lohnnebenkosten in die Tabuzone des deutschen Sozialstaatsmodells einbrechen.
Bange Stimmen, die die gegenwärtige Kürzungshysterie zittrig gemacht hat, fragen, wie denn die ÖTV- Forderungen finanziert werden sollen. So wie in der Vergangenheit der Gleichschritt von Einkommenssteigerung in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst finanziert wurde, lautet die Antwort. Bei allgemeinen Lohnsteigerungen landen von jeder Mark Erhöhung rund 50 Pfennig in den öffentlichen Kassen.
Nach Jahren des Kaufkraftverlustes lechzen die Gewerkschaften nach Geld. Von Arbeitszeitverkürzungen, welcher Variante auch immer, hört man viel zu wenig.
Zwar geht es „nur“ um Tarifpolitik, aber die Auseinandersetzung ist politischer denn je. Sie betrifft die ganze Linie der Wirtschaftspolitik. Jan Priewe
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