: Plädoyer für 7-Uhr-Filme
Antidepressive Therapie
Am schönsten ist es, um neun Uhr morgens ins Kino zu gehen. Das vermittelt einem so ein wohltuendes, fast triumphierendes Gefühl, vor allem, wenn man’s ohne Wecker getan hat. Wenig schlafen wirkt antidepressiv, wenn man’s nicht übertreibt. Sonnenstudios sollen auch antidepressiv wirken. Siehst du ein braun gebranntes Gesicht, lache nicht, sondern denk an die große Verzweiflung, die diesen Menschen ins Sonnenstudio trieb! Urlauber verfolgen ähnliche Zwecke, und jeder Film ist eine kleine Reise, mag’s auch nur ins rumänische Lepratal gehen.
Auf der Berlinale vor 14 Jahren wurde man aus schlimmen Depressionen gerissen, als man um elf einen todtraurigen Film gesehen hatte, dessen Held sich mit einer Pistole in den Mund schoss. Die größte Begeisterung hatte vor sechs Jahren Bela Tarrs verzweifelter Film „Satanstango“ ausgelöst, der sechs Stunden dauerte. Melancholie ist in diesem Jahr nicht so angesagt. Manchmal denkt man, dass die Neun-Uhr-Morgen-Schiene eigentlich viel besser ist als die berühmte 0-Uhr-Schiene im Delphi. In den Achtzigern gab’s oft auch eine richtige Nachtschiene mit Panoramafilmen – meist sexuellen Inhalts –, die erst um zwei Uhr nachts anfingen.
Morgens um neun riechen die Leute im Berlinale-Palast übrigens nach Hotelshowergel. Mit seinen Wünschen nach einer 7-Uhr-Schiene steht man leider allein. Dabei wäre das doch toll: Vom dunklen Traum durchs dunkle Draußen ins dunkle Kino. Außerdem würde eine 7-Uhr-Schiene den sportiven Ironeye-Charakter des Festivals verstärken. Mit fünf Filmen im Rücken gehen wir noch lange nicht nach Hause. DETLEF KUHLBRODT
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