■ Pisa – und das Versagen der Schulpolitik: Anwalt des jungen Menschen
betr.: „Kindern verschlägt es die Sprache“, taz vom 12. 12. 01
Als vor rund vierzig Jahren die Russen den ersten Satelliten erfolgreich zum Mond schickten, reagierte die westliche Welt mit dem so genannten Sputnik-Schock. Ab sofort sollten an allen Schulen verstärkt Naturwissenschaften gelehrt werden. Jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung. Die lange geschmähten Geisteswissenschaften sind wieder gefragt.
Diese Art der Krisenbewältigung zeigt deutlich das eine Verständnis von Pädagogik: Bildung und Erziehung werden von den Problemen der Erwachsenen aus formuliert. Pädagogik soll den jungen Menschen so formen, wie ihn die Erwachsenenwelt haben will, das heißt Eltern, Politiker, Wirtschaftsvertreter u. a. Der Lehrer ist dabei „Agent der Gesellschaft“.
Damit diese Art von Pädagogik verwirklicht werden kann, dürfen grundlegende Menschenrechte des Grundgesetzes für den jungen Menschen nicht gelten: Schulzwang, Zwangsbelehrung, Lernzwang, Zwangsprüfung und Zwangsbenotung sind die „notwendigen“ Begleiter von Erziehung und Bildung.
Die pädagogische Alternative: Der Erwachsene versucht, sich in die Vorstellungswelt des jungen Menschen hineinzuversetzen, von dessen Bedürfnissen und Interessen aus zu denken und diese zu vertreten. Er versteht sich als „Anwalt des jungen Menschen“.
HANS GÖPFERT, Donaustauf
Es ist ein schlechter Witz anzunehmen, dass Kinder, denen „High-Tech-Spielzeug“ versagt ist, zu den Modernisierungsverlieren gehören. Im Gegenteil, wir haben doch schon jetzt das Problem, dass Kinder, die schon (zu) früh und zu häufig mit unserer Digitalen-Konsum-Technik konfrontiert werden, die absoluten Verlierer sind. Mit 4 Jahren bekommen sie einen Computer, und mit 6 Jahren sind sie dann in der Behandlung bei einem Ergotherapeuten oder Logopäden, weil sie nicht schulfähig sind. Auffällig geworden durch eine Lese- und Rechtschreibschwäche oder Rechenschwäche oder durch die Unfähigkeit still sitzen zu können etc.
Kinder müssen ihre Sinne trainieren. Wie Klaus Ring richtig sagt, müssen im Hirn Verknüpfungen stattfinden. Um vernünftig sprechen zu können, brauchen wir nicht nur die Fernsinne Hören und Sehen, sondern auch die Basissinne (Gleichgewicht/Bezug zur Schwerkraft, Tiefensensibilität/Druck/Vibration, Tastsinn/Berührung). Diese Sinne sind notwendig, um das Mundwerkzeug überhaupt zu gebrauchen. Diese für das gesamte Körperschema elementaren Wahrnehmungen werden durch Toben, Klettern, Springen, Laufen, aber auch durch Nachahmen im Haushalt und Alltag etc. im Hirn miteinander verknüpft und in die richtigen Bahnen gelenkt. Kinder, denen diese Möglichkeiten durch zu häufiges Rumsitzen genommen werden, haben ein unvollständiges Körperbild und sind zu höheren kortikalen Fertigkeiten nicht fähig. Von diesen Kindern verlangen zu wollen, dass sie sich vernünftig artikulieren können, still sitzen können, zuhören können, lernen können, abstrahieren können . . ., ist einfach zu viel verlangt. HEINER BIRCK, Bremen
Schon der Blick zu unseren dänischen und niederländischen Nachbarn könnte zeigen, dass die Entstaatlichung der Schulen nicht nur zu besseren schulischen Leistungen, sondern auch zu einer wesentlich lebendigeren, weil wandlungsfähigeren pädagogischen Landschaft führt. Die Idee, dass der Staat der Betreiber der Schulen sein müsse, stammt noch aus der Zeit des aufgeklärten Absolutismus, der das gesamte öffentliche Leben unter die Aufsicht des Staates stellte – damals ein Befreiungsakt gegen die Vorherrschaft der Kirchen, heute aber ein Anachronismus, der nicht mit einer mündigen Bürgergesellschaft rechnet.
Abhilfe kann nur geschaffen werden, wenn zwischen den Schulen ein fruchtbarer Wettbewerb entsteht, wenn also die Eltern und Schüler/innen eine wirklich freie Wahl der Schule haben. Das setzt aber voraus, dass alle Schulen – gleich, ob sie kommunale oder freie Träger haben – nach gleichen Maßstäben finanziert werden. Warum sollen nicht die Eltern und die Schüler/innen selbst entscheiden, an welche Schule ihre Steuergelder fließen? Mit einem intelligenten System der Mittelzuweisung, wie dem immer wieder diskutierten Bildungsgutschein, ließen sich sowohl der Wettbewerb als auch ein dynamisches System der Evaluation unter den Schulen fördern. HENNING KULLAK-UBLICK,Handewitt, Aktion mündige Schule
Nun liegt nach Timms mit Pisa auch die zweite und bislang weltweit größte Schuluntersuchung vor. Was sagt sie über alle ideologischen Gräben hinweg aus? Unsere guten SchülerInnen sind international nur Durchschnitt. Die Schwachen haben nur „Dritte-Welt-Niveau“. In keinem anderen Industrieland ist die soziale Herkunft so entscheidend über den Schulerfolg wie in Deutschland. Die frühe Verteilung auf verschiedene Schulformen führt zur sozialen Segregation. Das System nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters zu lernen, verschwendet vom Referendariat bis zur Pensionierung eine ungeheure Menge an pädagogischer Energie und führt zu Pseudolernen und Vergessen.
Die in der Rangliste führenden Länder wie zum Beispiel Skandinavien und Kanada haben das Entgegengesetzte riskiert. Sie investieren in die Lust am Lernen und das Vertrauen im Lernprozess. Die meisten der Länder im Vorderfeld der Rangliste haben Ganztagsschulen als Regelschulen. Die erfolgreichen Länder tun mehr für die frühkindliche Bildung.
Was folgt daraus? Ganztagsschulen; Ausbau integrierter Systeme; ohne Mittelsteigerung geht es nicht!; die Bildung als soziales Problem erkennen. Innere Schulreform: Demokratisierung der Schulstrukturen, innere Differenzierung, weniger lehrerzentrierten Unterricht, mehr entdeckendes, forschendes Lernen, Zulassen von Irrwegen. Vielleicht werden die Betroffenen selbst irgendwann durch geeignete Widerstandsmaßnahmen gegen die Misere aufstehen. UDO PAULUS, Hildesheim
Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen