Piratin Julia Schramm: Die „Privilegienmuschi“
Die Piratin Julia Schramm polarisiert. Obwohl sie kein Amt inne hat, ist die 26-Jährige meinungsstark und in den Medien präsent – für einige Piraten zu stark.
BERLIN taz | In ihrer Wohnung will sie sich nicht treffen. Berlin-Friedrichshain. Ein Kiez voller Flohmärkte und Absturzkneipen. Und auch: Ein Kiez, in dem wohnt, wer auf sich hält, wer sich offen nennt und jung. Sie bleibt dabei. „Keine Homestory.“ Sie, die die Trennung von privat und öffentlich nicht akzeptieren will, hält die Tür geschlossen.
Diese Frau, die einmal den Begriff der „Post-Privacy“ verfochten und sich von der Privatsphäre im Netz verabschiedet hat, kandidiert am kommenden Wochenende für den Bundesvorstand einer Partei. Julia Schramm. „Politikergattin“ nennt sie sich, oder „Privilegienmuschi“. Julia Schramm, Piratin und Publizistin, eckt an.
Die Vorwürfe, die man ihr macht, wiederholen sich: mediengeil, inszenierungssüchtig, ein Bühnenluder. Sie nutze die politische Prominenz ihres Verlobten, des Berliner Abgeordneten Fabio Reinhardt. Und Schramm? Hält es aus. Behütet wächst sie auf, in Hennef bei Bonn, die Mutter Hausfrau, der Vater Ingenieur.
Sie hat einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester. Früh bläut die Mutter der ältesten Tochter ein, finanziell unabhängig zu sein – und schenkt ihr Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“. Wenn sie über ihre Kindheit spricht, sagt Schramm Sätze wie: „Ich war schon in der vierten Klasse gegen das dreigliedrige Schulsystem.“
Die Person: 26, wuchs im Rheinland auf. Schramm hat Politik, Amerikanistik und Staatsrecht in Bonn studiert. Seit 2009 ist sie Mitglied der Piratenpartei. Sie will zum Datenschutz promovieren.
Die Partei: Am 28. und 29. April findet in Neumünster der Bundesparteitag der Piraten statt, wo unter anderem ein neuer Bundesvorstand gewählt werden soll. Insgesamt bewerben sich zehn Personen um die Parteispitze. Die aussichtsreichsten Kandidaten sind Julia Schramm, der aktuelle Bundesvorsitzende Sebastian Nerz und sein Stellvertreter Bernd Schlömer.
Die Kandidatin: Julia Schramm kandidiert für das Amt der Parteivorsitzenden, als Stellvertreterin und Beisitzerin. Ihr Themenschwerpunkte sind die Europawahl 2014, Verbesserung der Programminfrastruktur und die Stiftungsarbeit. Julia Schramm setzt vor allem auf die Basis der Partei. Die Mitglieder sollen die inhaltliche Macht haben. Sie bloggt auf juliaschramm.de.
Ihr Thema ist der Datenschutz
Ihre Helden der Pubertät waren Hesse, Marx und Nietzsche. Schramm geht nach Bonn und studiert Politik, Amerikanistik, Staatsrecht. Nach dem Abschluss zieht sie nach Berlin. Sie will promovieren, ihr Thema ist der Datenschutz. Sie schreibt ein Buch über das Leben ihrer Generation im Netz. Im September soll es erscheinen, der Titel ist noch geheim. Schramm schreibt im „Piraten-Wiki“: „Ich habe Zeit. Ich habe Geld.“
Vielleicht war es das Buch von Simone de Beauvoir, vielleicht war es die Uni. Die 26-Jährige nennt sich Feministin, ein Begriff, der für sie Tradition und Geschichte hat. Als Julia Schramm im März eine parteiinterne Umfrage im Berliner Piraten-Büro zum Thema Sexismus und Umgang mit Gender-Fragen der Presse vorstellt, ist sie dabei. Sie wirkt sympathisch und offen.
Schramm sitzt nicht mit ihrem Laptop auf dem Podium. Sie will jeden Moment verfolgen, sich nicht ablenken lassen. Wenn Fragen aus dem Plenum kommen, fokussiert sie den Redner und antwortet mit fester Stimme. Doch auch für ihr feministisches Engagement wird Schramm kritisiert. Die Piratenbasis mag sich den Sexismusvorwurf nicht anhören.
Nicht selten liest Schramm dann im Netz anonyme Kommentare wie „Die muss mal gebumst werden“. Und Schramm? Hält es aus. Julia Schramm ist angreifbar – weil sie sich exponiert. Sie sucht die Öffentlichkeit, will ihre Themen vorantreiben. Einen weiteren Angriffspunkt bietet ihre Depression. Als sie noch in Bonn studierte, war sie deswegen in Therapie. Sie geht damit bemerkenswert offen um. Es sei eher „eine Quarterlife-Crisis“ gewesen, sagt sie heute. Es gehe ihr wieder gut.
Angriffspunkt Depression
Zum Treffen der „Spätrömischen Dekadenz“, einem informellen, kommunalen Piratentreff, kommt Julia Schramm pünktlich in den Berliner Kunstraum HBC. Sie sieht müde aus, ihre Stimme ist brüchig. Plötzlich scheint ihr alles zu viel zu sein. Die Vorwürfe, selbstbezogen, oberflächlich zu sein. Der Presse gegenüber wollen sich die Piraten zu Schramms Kandidatur nicht äußern.
Die Partei, die sich sonst so sehr um Transparenz bemüht, sagt „kein Kommentar“. In der vermeintlich anonym-virtuellen Welt sieht das anders aus. Julia Schramm wirft sich auf ein Sofa, sagt: „Angeblich lüge ich.“ Es geht um eine Twitter-Nachricht, in der Schramm Ende Januar vom Altliberalen Gerhart Baum geschwärmt hat. Sie schrieb: „Gespräch mit Gerhart Baum auf dem Weg zurück hat mich irgendwie zum … äh … Datenschützer gemacht o.Ö.“
Nun also doch eine Datenschützerin? „Ich habe mich halt weiterentwickelt“, sagt Schramm. Warum jemand für Datenschutz eintritt, versteht sie mittlerweile besser. Doch die Gefahr einer Bürgerüberwachung ist damit nicht aus der Welt für sie. Nach dem Gespräch mit Baum soll Schramm gesagt haben, dass der Altliberale ihre Kandidatur unterstütze. Sie dementiert.
Bei jedem Treffen ist Schramm hundertprozentig präsent. Sie weiß, wie sie etwas kommuniziert. Julia Schramm, die bis jetzt kein Amt in der Partei innehat, zählt laut Stern zu den „wichtigsten Köpfen der Piraten“. Sie ist auch mal laut und hat zu vielen Themen eine Meinung. Die Basis der Piraten schätzt das nicht.
Männer im Hintergrund
Sie mögen ihre Männer, die eher im Hintergrund arbeiten. Trotzdem stehen Schramms Chance für den Parteivorstand nicht schlecht. Im „Piraten-Wiki“ hat sie bereits 125 Unterstützer, der aktuelle Bundesvorsitzende Sebastian Nerz 137. Sie gehört zu dem Flügel der Piraten, die professionell Politik machen wollen.
Auch zu der aktuellen Debatte, dem Umgang mit Rechtsradikalen in der Partei, hat sie eine Meinung. „Wir dürfen in dem Bereich nichts relativieren, wie das gerade passiert. Das ärgert mich“, sagt sie. Schramm versetzt mit diesem Satz Sebastian Nerz einen Seitenhieb, denn der Bundesvorsitzende hat da kein Problem.
Die Geschichte ihrer Politisierung beginnt mit den Al-Qaida-Anschlägen vom 11. September 2001 in New York. „Das war der Wendepunkt. Ich entschied mich gegen ein Leben im Hedonismus“, sagt Schramm heute. Sie begibt sich auf die Suche nach einer geeigneten Partei. „Bei den Grünen konnte ich nicht landen wegen der Perlenohrringe, die SPD unter Schröder ging auch nicht, und die CDU stand nie zur Debatte.“
Stattdessen wird Schramm im Jahr 2005 Mitglied bei den Jungliberalen, die auf den ersten Blick „freiheitlich wirkten und zynisch-lustig waren“. Im März 2009 absolviert sie ein Praktikum in der FDP-Landtagsfraktion von Nordrhein-Westfalen. „Das war der Todesschuss“, sagt Schramm. So freiheitlich waren sie dann doch nicht. In ihrem Blog schreibt sie: „Bisher hatte ich nur die Freiheitskämpfer gesehen.
Wie ein Pali-Tuch
Dahrendorf, Hamm-Brücher, Scheel. Baum. Jetzt sah ich die FDP in Gänze. Und es gefiel mir gar nicht.“ Als sie ein Tchibo-Glitzertuch im Büro trägt, wird sie ermahnt, dass es wie ein Pali-Tuch aussehen könne. Julia Schramm stößt auf die Piraten. Eher weil sie, die Politologin, es spannend findet, eine Partei von Anfang an zu begleiten, auszuprobieren. Ein Experiment.
„Wieso will mich jeder zwingen, in ein Parlament zu gehen. Nur weil ich Titten habe?“, fragt sie im September 2011 auf Twitter. Ein halbes Jahr später bewirbt sie sich trotzdem um ein Amt. Eine Frauenquote in ihrer Partei lehnt Schramm zum jetzigen Zeitpunkt ab. Sie möchte nicht nur in ein Amt gewählt werden, weil sie eine Frau ist. Genau das ist aber ihr großer Vorteil, denn der Piratenpartei mangelt es an Frauen.
Die politische Geschäftsführerin Marina Weisband wird nicht mehr kandidieren. Die Stelle an der Spitze der Partei ist neu zu besetzen. Bei ihrer Kandidatur geht es Schramm nicht primär um Feminismus oder das vermeintliche Frauenproblem in der Partei. „Ich will, dass wir eine Plattform entwickeln, mit der die europäischen Piraten ein gemeinsames Wahlprogramm für die Europawahlen erarbeiten können“, sagt sie.
Außerdem will sie ein Debattenportal konzipieren – dort sollen die Meinungen ihrer Kollegen gebündelt werden und in offizielle Positionen sowie Anträge führen. Die Arbeit des Bundesvorstands nennt sie „politische Verwaltung“. Oft betont Julia Schramm im Gespräch, dass sie mit dem jetzigen Piraten-Chef Sebastian Nerz nicht unzufrieden sei. Sie äußert ihre Kritik bedacht: „Er ist sachlich, ruhig und zu vielen Dingen sagt er halt: ’Dazu kann ich nichts sagen‘.“
Beziehung auf Twitter
Nerz selbst war kürzlich Opfer von Hasstiraden im Internet, weil er der Berliner Fraktion den Mund verbieten wollte. So etwas würde ihr wahrscheinlich nicht passieren. Sie will, dass die Mitglieder entscheiden. Auch ein Vorteil für Schramm: Sie ist Beschimpfungen im Netz gewohnt.
Ihre Beziehung zu dem Berliner Abgeordneten Fabio Reinhardt zelebrieren beide öffentlich auf Twitter. Sie hat im Netz ein Foto ihres Verlobungsrings veröffentlicht. Reinhardts Kollege Gerwald Claus-Brunner kommentiert: „21. Jahrhundert und dann heiraten, wie rückständig ist das denn?“ Schramm reagiert gelassen und antwortet, es sei besser, rückständig zu sein, als intolerant.
Mittlerweile lehnt Julia Schramm viele Presseanfragen ab und redet nicht mehr mit Bild. „Einen Mediencoach habe ich nicht“, sagt Schramm. Sie nutze die Medien nur, weil sie eine Stimme haben will. Und die Medien nutzen sie, weil sie attraktiv ist, reden kann und klare Positionen hat.
Twitter. Hasstiraden. Transparenz. Feminismus. Nazis. Reporter. Der schnelle Erfolg. Die Endlosdebatten. Und Schramm? Hält es aus. Oder? „Man muss differenzieren“, sagt sie schlicht, „was persönlich gegen mich gerichtet ist und was Projektion ist.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana