Pille für mehr Lust bei Frauen: 0,7 mal mehr Sex im Monat
Ein neues Medikament soll lustarme Frauen anregen. Aber ist, wer dreimal im Monat mit seinem Partner schläft, wirklich krank?
Frage an die Frauen: Welches kleine Opfer würden Sie bringen, um einmal mehr als sonst im Monat mit ihrem Partner Sex zu haben? Jede Woche einen Ausgehabend mit dem Liebsten einplanen? Sich im hinteren Teil der Videothek eine schmutzige DVD ausleihen? Oder gar jeden Abend eine Pille mit dem Wirkstoff Flibanserin einwerfen? Letzteres führt im Schnitt zu 0,7-mal mehr Sex im Monat.
Die Zahlen machten kürzlich in den Medien die Runde, als Forscher das Ergebnis von internationalen Studien auf einem Sexualkongress in Lyon präsentiert hatten. Demnach steigerte der Wirkstoff Flibanserin in drei klinischen Studien die Libido von Frauen, die zuvor über Mangel an Lust geklagt hatten. "Viagra for women?", fragte die an den Studien beteiligte University of Carolina in einer Pressemeldung. "Lächerliche Wirkung - grandiose Farce" mokierten sich hingegen Kommentatoren der Online-Ausgabe des Ärzteblattes.
Und tatsächlich ist der Versuchsablauf der Studien, die der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim finanziert hat, mindestens so interessant wie das Ergebnis.
Dieser Text erscheint in der sonntaz vom 12. Dezember 2009 - zusammen mit der taz am Kiosk erhältlich.
In den drei Untersuchungen in den USA und in Europa wurden rund 1.400 Frauen getestet, die über einen Zeitraum von 24 Wochen entweder den Wirkstoff Flibanserin in einer Dosis von 100 Milligramm täglich oder ein Placebo einnahmen.
Flibanserin fahre das "hemmende System" der Sexualität im Gehirn ein wenig herunter. Dadurch komme das "aktivierende System" etwa durch Dopamin mehr zum Einsatz und dies könne zur Steigerung des sexuellen Verlangens führen, erklärt Michael Berner, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg und an der Studie beteiligt.
Die Frauen, die 100 Milligramm Flibanserin pro Tag schluckten, hatten zuvor im Schnitt 2,8-mal Sex im Monat mit ihrem Partner gehabt. Nach Einnahme des Wirkstoffes hatten sie 4,5-mal Geschlechtsverkehr oder ein anderes "sexuell befriedigendes" Erlebnis.
Interessanterweise aber berichteten auch die Frauen, die ein Placebo-Präparat, also eine Pille ohne Wirkstoff, verabreicht bekamen, hinterher, ihre sexuelle Frequenz sei um einen Geschlechtsakt pro Monat gestiegen.
Allein der Glaube, man steigere durch irgendeine Substanz die Lust, kann also die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs erhöhen, selbst wenn dort nur Schokolade, ein Ayurveda-Kraut oder sonst was drin ist. Immerhin aber brachte der chemische Wirkstoff noch einmal ein zusätzliches statistisches Sex-Plus von 0,7-mal pro Monat.
Die Frauen führten gleichzeitig ein elektronisches Tagebuch, in dem sie täglich den Grad ihres Verlangens eintippten - "auch da gab es deutliche Steigerungen", berichtet Berner. Die Studie erforschte auch die Nebenwirkungen des Präparats: So beobachteten 12 Prozent der Frauen mit der 100-Milligramm-Dosis eine leichte Schläfrigkeit, weswegen die Forscher dazu raten, das Präparat am besten abends einzunehmen.
Die an der Studie beteiligten Frauen hatten die Wechseljahre noch nicht erreicht. Mit ihrem Partner waren sie im Schnitt schon seit zehn Jahren zusammen. Sie litten laut Diagnosen unter "Hypoactive Sexual Desire Disorder" (HSDD), was man als "Mangel an sexuellem Verlangen" übersetzen könnte.
Nun dürfte es viele Langzeitpaare allerdings fassungslos machen, dass es schon als krankhaft gelten soll, alle elf Tage Sex mit dem Partner zu haben. Was die einen als HSDD bezeichnen, erscheint anderen Wissenschaftlern ab einem bestimmten Zeitpunkt als der Normalfall.
Menschen in Langzeitbeziehungen haben nach drei bis vier Jahren Partnerschaft im Schnitt nur noch zwei- bis dreimal im Monat Sex, sagt Jakob Pastötter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung. Dies hätten Erhebungen gezeigt. Erst kürzlich ist ein Beitrag in der Zeitschrift Archives of Sexual Behavior zu dem Schluss gekommen, dass der Kriterienkatalog über HSDD im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders dringend überholungsbedürftig sei.
Pastötter kritisiert die Forschung zur "Lustpille": "Das erhöht nur den Druck auf die Frauen, mehr Sex haben zu müssen. Ich halte das für extrem problematisch." Schon die Einführung von Viagra habe den Leistungsdruck auf die Männer erheblich gesteigert. "Aus den Beratungen wissen wir, dass heute schon 17-jährige Jungen ankommen und Viagra schlucken wollen für ihr erstes Mal."
Studienarzt Michael Berner verweist hingegen auf die subjektive Befindlichkeit der Frauen. "Die Frauen kommen in die Beratung, sie leiden darunter, kaum noch Lust auf Sex zu haben." Das Medikament könne eine "Tür" für sie öffnen. "Das Investment in eine befriedigende Sexualität, die Gestaltung der Partnerschaft, der Zeit, die man miteinander verbringt, das muss natürlich dazukommen." Besteht die Gefahr, dass Leute die Flibanserin-Dosis als Rauschmittel nutzen und sich aus Spaß anturnen? Missbrauch befürchtet Berner nicht. Die Wirkung der Substanz sei in der Regel erst nach vier bis sechs Wochen täglicher Einnahme deutlich spürbar.
Boehringer Ingelheim sei im Gespräch mit der europäischen Zulassungsbehörde für Arzneimittel, sagt eine Sprecherin des Konzerns. Wann das Präparat auf den Markt komme, sei noch unklar. Am Ende entscheiden die Konsumentinnen. Jeden Abend ein Psychopharmakon schlucken, um etwas mehr Sex zu haben? Vielleicht fehlt vielen Frauen dazu letztlich doch die Lust.
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