Pick Pockets: Unsentimentale Kindheitsmuster
■ Naive, scharfe Blicke auf die Erwachsenenwelt: Erzählungen über die schwierige Kunst des Heranwachsens vom Krabbelalter bis an die Schwelle der Pubertät
Seligkeit und Schrecken der Kindheit, Verwirrungen und Glücksgefühle des Heranwachsens – das sind große, traditionsreiche Sujets der Literatur. Und sie werden es bleiben, solange literarische Texte geschrieben und gelesen werden, denn sie kommen aus einem Erfahrungsfundus, den jeder Mensch, mithin jeder Autor, erlebt und durchgemacht hat.
Die Kindheit Herbert Heckmanns fiel in die dreißiger und vierziger Jahre. Sein autobiographischer Text „Die Trauer meines Großvaters. Eine Kindheit in Frankfurt“ malt ein lebendiges, stimmungsvolles, zugleich unsentimentales Bild einer dunklen Epoche. Als Fünfjähriger nimmt er zum erstenmal Gespräche der Eltern über die Nazis wahr, er beobachtet wenig später den Abtransport Frankfurter Juden, und er muß, als Ende dieser Schreckenszeit, die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs miterleben. Geschildert wird das alles in einer leisen, präzisen Sprache, die das naive, gleichwohl scharf beobachtende Wahrnehmungsmuster eines Kindes sehr genau rekonstruiert.
Von ganz anderen Kindheitsschrecken handelt der Roman „Burt“ des amerikanischen Psychiaters und Schriftstellers Howard Buten. Der achtjährige Burt kommt ins Heim für verhaltensgestörte Kinder, weil er angeblich etwas Schreckliches mit Jessica, einem gleichaltrigen Mädchen, angestellt hat. So jedenfalls sagen die Erwachsenen. Nun sitzt er im Beruhigungszimmer: Er hat das Bücherregal des Psychiaters umgeworfen, statt auf dessen Fragen zu antworten. Hier schreibt Burt seine Geschichte an die Wand. Dieser bewegende Roman, der sich ganz meisterhaft einer kindlichen Diktion bedient, ohne je kindisch zu werden, ist eine subtile Studie über die Welt der Erwachsenen, die in den Augen von Kindern unverständlich, irritierend und oft grausam wirkt. Das Buch war in den USA und in Frankreich ein Bestseller, ist hier in Deutschland aber erstaunlicherweise wenig beachtet worden. Die Taschenbuchausgabe in der grundsätzlich sehr zu lobenden Reihe btb, die seit etwa einem Jahr den Taschenbuchmarkt erweitert, ist deshalb um so mehr zu begrüßen.
In der gleichen Reihe ist jetzt auch Doris Lessings kleiner Roman „Das fünfte Kind“ erschienen. Einer sehr durchschnittlichen Familie, die in der Provinz ein ganz normales Familienleben führt, wird mit dem fünften Kind ein Junge geboren, der anders als seine Geschwister ist. Verstörend anders. Der kleine Ben ist nämlich eher ein bösartiger und unberechenbarer Troll als ein menschliches Wesen. Er hat nichts Kindliches an sich und bleibt selbst seiner Mutter unzugänglich. Das Familienidyll zerbricht. Das Leben mit Ben wird zum Kampf der Normalität mit dem Fremden und Animalischen im Menschen, mit der Unberechenbarkeit der Natur. Doris Lessing nutzt in diesem Roman geschickt, wenn auch manchmal etwas zu grell, Motive des englischen Schauerromans, und natürlich ist es auch kein Zufall, daß man gelegentlich an „Rosemary's Baby“ erinnert wird. Der Roman zeigt sehr deutlich das Erfolgsrezept dieser Autorin, das darin besteht, triviale Erzählmuster so umzuschmelzen, daß sie auch auf anspruchsvolle Leser nicht peinlich wirken.
Als deutsche Erstausgabe ist jetzt auch unter dem Titel „Molly Flanagan und der Heilige Geist“ ein Roman der amerikanischen Autorin Margaret Skinner erschienen. Das Buch spielt in den fünfziger Jahren in Memphis, Tennessee, und erzählt von der zwölfjährigen Molly. Originell an diesem Roman ist besonders, daß er die Schwierigkeiten eines Mädchens an der Schwelle zur Pubertät als eine Art Konfessionskonflikt durchspielt. Mollys baptistische Großmutter und ihre katholische Patentante führen nämlich einen grotesken Kampf um das „Seelenheil“ des Mädchens, das sich aber für ganz andere Dinge interessiert. Die Erwachsenen wissen eben nur selten, was in Kindern und Jugendlichen vorgeht. Läsen sie mehr Bücher zu diesem Thema, wüßten sie mehr. Klaus Modick
Doris Lessing: „Das fünfte Kind“. Roman. btb bei Goldmann, München 1997, 16 DM
Howard Buten: „Burt“. Roman. btb bei Goldmann, München 1997, 14DM
Herbert Heckmann: „Die Trauer meines Großvaters“. Fischer TB, Frankfurt/M. 1997, 16,90 DM
Margaret Skinner: „Molly Flanagan und der Heilige Geist“. Roman. Fischer TB, Frankfurt/M. 1997, 16,90 DM
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