Philosophin Isolde Charim über Narzissmus: Wir alle sind Narzissten

Die Wiener Philosophin Isolde Charim über den narzisstischen Menschen von heute, der die anderen nur noch zum Beklatschen seiner Besonderheit brauchen kann.

Foto: Philippe Jarrigeon

taz FUTURZWEI: Liebe Frau Charim, meine Peergroup ist besessen von der Duschfrage, wie oft, wie viel, wie heiß? Warum reden wir ständig darüber, dass wir angeblich weniger Duschen, heizen, Fleisch essen, fliegen?

Isolde Charim: Ich denke, es ist immer der Versuch, weltpolitische Angelegenheiten auf die einzelne Person herunterzubrechen. Es ist eine alte grüne Strategie, dass man Ohnmachtserfahrungen mit partiellen Ermächtigungsstrategien entgegenwirkt. Die Welt geht unter, aber wir machen Mülltrennung. Zudem ist die Selbstkasteiung natürlich auch ein wichtiges narzisstisches Verfahren, bei dem man narzisstische Befriedigung erhält. Das ist der Mehrwert daran. Noch dazu, wenn das in der Gruppe besprochen und somit anerkannt wird.

Eine zentrale These Ihres Buches ist, dass – psychoanalytisch mit Freud gesprochen – das Ich-Ideal das Über-Ich abgelöst hat. Konkret: Das Ich hat die Gesellschaft abgelöst.

Die Frau: Philosophin und Publizistin (taz, Falter), wissenschaftliche Kuratorin des Kreisky-Forums Wien.

Geboren in Wien, lebt in Wien.

Das Buch: Die Qualen des Narzissmus. Paul Zsolnay Verlag 2022 – 224 Seiten, 24 Euro

Das taz FUTURZWEI-Gespräch fand per Zoom statt.

Nein, das Ich-Ideal hat die Figuren der Autorität abgelöst. Wir haben es nicht mit einer reinen Individualisierung zu tun. Die Selbstbezüglichkeit ist vielmehr unsere Form, heute in der Gesellschaft zu leben. Das ist unsere paradoxe Vergesellschaftung mittels Negation der Sozialität.

Sie zitieren Hegel, der sagt: »Es geht um den Zugang zur Allgemeinheit.« Im Gegensatz dazu sagt der narzisstische Mensch heute: Es geht um mich, ich bin die Welt, alles hat sich auf mich zu beziehen. Ist das Ihre Kernthese?

Es ist eine Kernthese. Ich bin die Welt ist aber nicht gleichzusetzen mit all diesen Vorstellungen von neoliberaler Selbstoptimierung. Die Selbstoptimierung geht immer davon aus, dass es ein souveränes Subjekt gibt, das sich selbst ermächtigt, das einheitlich ist und sich zum Zentrum macht. Narzissmus ist dagegen immer eine Spaltung. Deswegen heißt der Untertitel des Buchs auch: Über freiwillige Unterwerfung.

Wem unterwerfe ich mich?

Man unterwirft sich einer idealen Vorstellung des eigenen Ichs, und dieses Ideal verweist das Ich in eine ewige Unzulänglichkeit. Man erreicht das Ideal nie. Man ist immer zu wenig. Interessant ist jetzt das, worum gerungen wird: dass nämlich die eigene Idealvorstellung anerkannt wird.

Die anderen müssen sagen, dass ich in meiner Einzigartigkeit supertoll bin?

Wir haben eine vollkommene Selbstsetzung jedes Einzelnen. Das Ich weist alle Allgemeinkategorien, alle vorgegebenen Kategorien zurück. Gleichzeitig aber muss dieses selbstgesetzte Ich gesellschaftlich anerkannt werden.

Jetzt müssen wir einmal sagen, dass es hier leider nicht um die üblichen Ressentiments gegen FDP-Wähler geht. Der Narzissmus, sagen Sie, sei die herrschende Ideologie unserer Gesellschaft, und das meint uns linksliberale Weltbürger und gerade auch die Wokies.

Ganz oft kommen jetzt Leute zu mir und sagen: Sie haben ja so recht, der ist ein Narzisst oder der andere da oder mein Nachbar. Aber der erste Punkt ist: Wir alle sind Narzissten. Aber nicht, weil wir so selbstherrlich oder selbstsüchtig sind, sondern weil wir in gesellschaftlichen Verhältnissen leben, die das einfordern. Der zweite Punkt ist, dass eine herrschende Ideologie auf verschiedene Weisen gelebt werden kann. Der FDP-Wähler lebt es auf seine Art, so wie wir das eben auf eine andere Art ausleben. Beides ist eine Form des Narzissmus.

Ich habe das Buch so verstanden, dass Narzissmus eine bürgerliche Ideologie ist. Arbeiter und Dienstleistungsproletariat wären in dem Sinne keine Narzissten?

»ICH BESTIMME, WER UND WAS ICH BIN, UND DIE ANDEREN MÜSSEN DAS ANERKENNEN. DAS IST EINE ERZWUNGENE ANERKENNUNG UND DIE VERNEINUNG ALLER SOZIALITÄT.«

Isolde Charim

Das glaube ich nicht. Ich unterscheide zwischen dem subjektiven und dem objektiven Narzissmus. Wir haben Konkurrenzverhältnisse, das ist grundsätzlich nichts Neues. Neu ist, dass jetzt in diesen Konkurrenzverhältnissen eine narzisstische Komponente auftaucht und vermittelt wird, eben der objektive Narzissmus.

Wie?

In allen Formen von Ranking-Ordnungen. Durch dieses falsche Versprechen: Wer die meisten Likes hat, wer die meiste Aufmerksamkeit erhält, ist der oder die Beste und katapultiert sich damit in ein Jenseits der Konkurrenz, weil er nämlich dann einzigartig ist. Und nicht mehr vergleichbar. Das ist das, was man sucht: der unerbittlichen Ordnung dieser Konkurrenzsituation zu entgehen.

Warum?

In einer Welt allgemeiner Austauschbarkeit, die eigentlich unlebbar ist, gibt dieses falsche Versprechen Halt, das sagt: Du kannst dich durch Konkurrenz, durch noch mehr Konkurrenz aus der Austauschbarkeit retten. Da ist der Arbeiter ebenso und notwendigerweise eingebunden. Denn dieser objektive Narzissmus ist in die Arbeitsverhältnisse, in die allgemeine Bewertung eingeschrieben. Und er dockt damit an unseren subjektiven Narzissmus an. Der Narzissmus der Konkurrenzverhältnisse parasitiert so an unserer psychischen Disposition zum Narzissmus, die dadurch befördert wird. Eine Ideologie kann nie nur etwas Äußerliches sein. Wenn sie nicht etwas im Subjekt ansprechen würde, würde sie nicht funktionieren. Narzissmus ist eine bürgerliche Ideologie, die vorherrschend ist, das heißt, dass sie auch in andere Klassen greift.

Jetzt ist es ja so, dass wir denken, der FDP-Wähler sei komplett egoistisch und erodiere das Gemeinsame, während wir uns großartig um das Allgemeinwohl sorgen. Nach Lektüre Ihres Buch muss ich sagen: Da hab ich selbst ganz schön was beigetragen, dass Gemeinschaft erodiert.

Naja, das vielleicht nicht, aber wir sind alle verstrickt in diese Verhältnisse. Man kann sich da nicht rausnehmen, und man kann das nicht nur auf den anderen abwälzen. Aber Narzissmus ist kein Charakterdefekt, es ist keine Störung des Einzelnen, das ist mir wichtig. Es ist heute ein gesellschaftliches Phänomen.

Gleichzeitig ist der Kern der narzisstischen Moral die Selbstidentifikation. Das heißt, der andere ist nur noch zum Nicken und Bestätigen da. Das nimmt im öffentlichen Gespräch eindeutig zu, dass Gegenargumente nicht zugelassen werden: Wer nicht zustimmt, ist ein Feind und wird bekämpft oder geghostet.

Die Selbstidentifikation ist für mich der Höhepunkt, die Reinform dieses gesellschaftlichen Paradigmas. Es ist der Anspruch einer absoluten Selbst-Setzung: Ich bestimme, wer und was ich bin, und die anderen müssen das anerkennen. Das ist keine klassische Anerkennung, die auf Gegenseitigkeit beruht, sondern eine asymmetrische Anerkennung, eine erzwungene Anerkennung, egal ob die Person das gut findet oder nicht. Das ist in gewisser Weise eine Verneinung aller Sozialität.

Das heißt, es ist eine Illusion von Gemeinschaft?

Ja, es eine Illusion. Wobei es eben auch narzisstische Gemeinschaften gibt. Eine solche Gemeinschaft funktioniert darüber, dass man sich wechselseitig der eigenen Vortrefflichkeit versichert, wie Hegel das in einer wunderbaren Formulierung genannt hat. Besser kann man es nicht sagen.

Jeder hat ja seine Peergroup und diese Peergroup stimmt in der Regel überein, was die grundsätzlichen Gedanken zu Politik und Gesellschaft angeht. Draußen in der richtigen Welt gibt es Leute, die etwas anderes sagen, aber das nervt mich total und deshalb treffe ich sie nicht mehr, schalte sie stumm, und dann sind sie weg und alle meiner Meinung. Das ist in der Pandemie passiert und passiert nun auch in der Frage des Umgangs mit Putin und der Ukraine.

Genau. Die Peergroup als narzisstische Gemeinschaft ist die gemeinsame Ausrichtung auf dasselbe Ideal. Von daher rührt dieses Auf-denselben-Takt-gestimmt-sein.

Der Wechsel vom Über-Ich zum Ich-Ideal ist zentral, um unseren eigenen Narzissmus zu verstehen. In der Psychoanalyse meint das die Ablösung von der Anerkennung und Missbilligung durch die Eltern. Was meinen Sie, und was ist da genau passiert?

Sigmund Freud hat den schönen Begriff des Statthalters der Gesellschaft in der Psyche geprägt. Das ist die Instanz, wo das Individuelle und das Gesellschaftliche sich kreuzen. Damit sind wir schon in unserer psychischen Struktur immer auch Teil der gesellschaftlichen Objektivität. Das Über-Ich ist eine Instanz der Autorität, der Zensur, der Vorschriften, der Moral, und es ist eine Instanz, die Gesetze vorgibt und eine Grenze zieht zwischen erlaubt und verboten. Wenn du die Grenze überschreitest, wirst du bestraft, und der mächtigste Hebel dieser Bestrafung ist das schlechte Gewissen. Freud schreibt sehr schön: Das schlechte Gewissen ist die unfassbarste Polizei, die es in der Psyche gibt, weil sie schon unsere Absicht erkennt und nicht erst unsere Taten. Zentral ist hier das Konzept der Schuld. Diese verinnerlichte Autorität des Über-Ichs spiegelt das wider, was es an gesellschaftlicher Autorität gibt.

Und das Ich-Ideal?

»DER SUV-FAHRER UND DIE QUEER-AKTIVISTIN HABEN AM SELBEN PARADIGMA TEIL – DEM NARZISSMUS ALS DOMINANTER IDEOLOGIE.«

Isolde Charim

Das Ich-Ideal funktioniert im Gegensatz dazu über die Vorstellung einer besseren Version des Ich. Diese psychische Instanz ist aber nicht netter oder freundlicher, sondern etabliert genau wie das Über-Ich eine unerbittliche Herrschaft über das Ich. Du misst dich stets an diesem Ideal, du musst diesem immer nachrennen und kannst es doch nie erreichen. Im Gegensatz zum Über-Ich schreibt das Ich-Ideal aber keine Gesetze und Verbote vor und es arbeitet nicht mit Schuld, sondern mit etwas, das noch schlimmer ist: Scham.

Woher kommt die Verschiebung?

Das ist die wirklich spannende Frage. Das Stichwort dazu ist: 1968. Damals gab es ja eine massive Bewegung, alle Über-Ich-Formen und -Figuren abzubauen. Das ist auch großteils gelungen. Es gibt immer noch Über-Ich-Reservate, aber es ist nicht mehr das vorherrschende System. Das Problem dabei ist, dass wir damit nicht in einen Zustand der völligen Freiheit geraten sind, sondern in die Knechtschaft einer noch unerbittlicheren und totalitäreren Herrschaft, der des Ich-Ideals.

Wir haben in den Gesellschaften des Westens durchaus Über-Ich-Welten, religiöse Milieus, traditionellere, patriarchalere, autoritärere Milieus, die wir Weltbürger als zurückgeblieben betrachten oder gar als böse, weil sie unsere Liberalisierung und Individualisierung verweigern. Das ist in unserem Ich-Ideal nicht vorgesehen, dass Leute anders leben möchten.

Dem würde ich einfach zustimmen. Das sind aber in liberalen Gesellschaften eben Reservate. Die vorherrschende Form der Vergesellschaftung sind Gruppierungen, die eher über das Ich-Ideal funktionieren. Bei Freud gibt es für Leute, die in ihrem narzisstischen Streben scheitern, auch den Ausweg, dieses schreckliche Ideal zu delegieren oder outzusourcen.

Wie geht das?

Man delegiert es an eine Figur, die das Ideal an unserer Stelle verkörpert. Dabei wird dieser Unterschied zwischen Über-Ich-Figuren und Ich-Ideal klar. Freuds diesbezüglicher Text ist von 1920 und da konnte er diese Figur – damals noch rhetorisch unbelastet – als politischen Führer bezeichnen. Dieser war das Angebot an den Narzissmus, einen Umweg zu nehmen: Der politische Führer erfüllt in seiner Überlegenheit das für einen, was man selbst nicht hinkriegt. Die Leute, die sich um diesen politischen Führer gruppieren, können sich dann wechselseitig in ihren Ichs anerkennen, als Teil der Gruppe und Teil der Macht. Heute steht aber nicht mehr der Über-Ich-Führer im Zentrum, gerade auch bei den Populisten nicht mehr.

Deren Führer sind keine Führer mehr?

Sie verkörpern keine Überlegenheit mehr. Sie verkörpern nur das narzisstische Ideal, nämlich die reinste Selbstbezüglichkeit. Das halte ich für eine entscheidende Verschiebung. Sie trifft auf Donald Trump und eigentlich auf alle Populisten zu. Diese sind keine Figuren der Autorität, auch wenn es ihnen um das Prinzip des Autoritären geht. Aber sie sind keine überlegenen Über-Ich-Figuren mehr, sondern rein selbstbezügliche Figuren – also Stars. Wir können also auch heute diese Ideal-Erfüllung delegieren, aber wir delegieren sie nicht mehr an Über-Ich-Figuren.

Ich würde Sie herausfordern und sagen: Obama war auch nur unser Star.

Ja, das ist richtig. Obama war unser Star, aber nicht in der Reinform einer Ich-Ideal-Figur. Es gibt Mischformen. Mick Jagger war auch so eine Mischform. Er war schon ein Star, lebte aber von dem Mythos, dass er viriler ist als die anderen Männer. Das müssen heutige Stars nicht mehr, die brauchen überhaupt keine Form von Überlegenheit mehr, das sind rein narzisstische Figuren.

Ich würde sagen, die Grünen-Politiker Annalena Baerbock und Robert Habeck sind auch für einen bestimmten Teil der Leute Stars. Dann wäre die zeitweise immense Begeisterung über Habeck Selbstbegeisterung – und was wäre dann die zeitweise Enttäuschung über Habecks reale Politik?

Es ist die Enttäuschung über die Figur, die das für einen selbst erledigen sollte. Diese Enttäuschung ist aber unausweichlich, das war auch bei Obama so. Interessant daran ist, dass es bei den Trump-Wählern deutlich weniger Enttäuschung gibt.

Weil die nichts erwarten?

Oder weil sie eigentlich nichts anderes erwarten als das, was er liefert.

Foto: Philippe Jarrigeon

Sie schreiben das nicht so, aber ich lese aus Ihrem Buch, dass wir in der Folge von 1968 unsere Politikvorstellungen verwechselt haben mit unserem Ich-Ideal. Wir haben das Über-Ich der Gesetze und Verbote abgeschafft in unserem Streben nach individueller Freiheit, wollten alles mit moralischer Exzellenz lösen und stehen jetzt vor den Trümmern einer Kultur, die ihre Grenzen längst erreicht hat. Sehe ich das vollkommen überspitzt?

Ich würde leider sagen, dass Sie es nicht überspitzt sehen. Die Emanzipationskämpfe waren zu einem Teil erfolgreich, und wieso landet man trotzdem nicht in einer befreiten Gesellschaft? Es gibt zwei Momente, die das beantworten. Das eine ist, dass sich diese Kämpfe auf ideologisch-politische Kämpfe reduziert haben. Das andere: Genau das Einlösen des Emanzipationsversprechens hat zur narzisstischen Wende geführt. Genau damit kam diese reine Subjektivität des Narzissmus auf und genau das ist der Bruch, um den es geht. Man muss auch verstehen, in welchem Bezug das zu den kapitalistischen Verhältnissen steht.

In welchem?

Die damaligen Verhältnisse, gegen die man rebelliert hat, wurden gewissermaßen durch ihr Gegenteil gestützt. Also, auf der einen Seite gab es ökonomische Verhältnisse, die all diese hässlichen Momente brauchen, auf der anderen Seite gab es Bereiche, die davon ausgenommen waren, die Familie etwa oder die Freundschaft. Zumindest ideologisch sollten diese Bereiche ein Gegenkonzept oder eine Schutzzone bilden. Das Ideologische versucht ja auch immer, einen Schutz aufzubauen.

Der Narzissmus auch?

Ja, aber der Narzissmus ist die Suche nach einer ganz neuen Art von Schutzzone. Das ist nicht mehr die der Familie, des Partners, der Gesellschaft, sondern es ist die Schutzzone des Ozeanischen, wie es bei Freud heißt. Der ursprüngliche Narzissmus des Babys ist dieses ozeanische Einssein mit der Welt. Die narzisstische Ideologie will ozeanische Räume für Erwachsene schaffen, safe spaces. Und das in einer unerbittlichen Konkurrenzgesellschaft, die alle Bereiche erfasst und die auch nicht das Private im Privaten lässt. Denn wir haben ja eine völlige Entgrenzung von Konkurrenzverhältnissen.

Meine These ist, dass es Wokies in drei historischen Varianten gibt. Die ersten sind die 68er, die ein Bewusstsein für die Defizite der autoritären Nachkriegsgesellschaft entwickelt haben und das damals stark unterdrückte Ich befreien wollten. Die zweiten Wokies sind die 79er, also die Grünen-Gründer, die im Namen der Ökologie und der Minderheitenrechte gegen die bereits entkrustete Mehrheitsgesellschaft angetreten sind. Die dritte Variante tritt nun mit Postkolonialismus, Antirassismus, Gender und Sprachverbesserungsversuchen gegen die liberale Demokratie an. Die Frage im Kontext Ihres Buches ist, ob die damit einhergehende Ichisierung und Ich-Idealisierung den Kollateralschaden hat, die Gesellschaft erodieren zu lassen?

Ich glaube, dass die ersten beiden genannten Gruppen, also die 68er und die Gründer der Grünen in einem Zwischenmoment standen. Die traten als Minderheit gegen etwas an. Heute hingegen hat sich der Narzissmus durchgesetzt. Dieser ist die dominante Ideologie der liberalen Gesellschaft. Der SUV-Fahrer und die Queer-Aktivistin haben am selben Paradigma teil.

Könnten Sie zusammenfassen, warum beides antigesellschaftlich ist?

»ALLES WIRD IN DIE EIGENE RELATION ZWISCHEN DEM ICH UND DEM IDEAL EINGESPEIST.«

Isolde Charim

Das Antigesellschaftliche ist das Absolutsetzen des eigenen Maßstabs oder des eigenen Weltverhältnisses. Ideologie meint ein Verhältnis zur Welt. In diesem Sinne gibt es kein Leben, das nicht in irgendeiner Weise ideologisch wäre. Aber unser ganz spezifisches Verhältnis zur Welt heute besteht darin, dass man die Welt auf sich zentriert, aber nicht im Sinne von egozentrisch.

Sondern?

Alles wird in die eigene Relation zwischen dem Ich und dem Ideal eingespeist. Das Antigesellschaftliche ist, dass wir wechselweise nur das Publikum des anderen sind, aber es keine weitere Form der Vergesellschaftung gibt, die darüber hinausgeht und in der man sich auf ein Allgemeines bezieht. Man bringt sich gegeneinander in Stellung oder wird in Stellung gebracht.

Was war der Narzissmus der aufeinanderprallenden Lager in der Pandemie?

Die Leute, die Corona und die Maßnahmen sehr ernst genommen haben, haben einen Narzissmus des vulnerablen Subjekts gelebt. Das war erlaubte Selbstsorge, die auch von den anderen eingefordert wurde. In einer absoluten Frontstellung dagegen standen die sogenannten »Corona-Leugner«. Diese haben ihren Narzissmus des robusten Subjekts in Stellung gebracht gegen den anderen Narzissmus. Die haben gesagt: Wir schätzen unsere Freiheit absolut und lassen uns von niemandem einschränken. Das war in der Situation der Pandemie ziemlich absurd. Sie haben auf die gänzlich neue Anforderung der Pandemie mit der bisherigen Form des Narzissmus geantwortet. Selbst auf Kosten ihrer Gesundheit. Daran sieht man, wie tief verankert diese Leute in dieser Form des Ideologischen sind.

Ich glaube aber, die vulnerablen Weltbürger haben noch nicht wirklich verstanden, dass sie jetzt diejenigen sind, die nach dem Staat schreien, der Grenzen der individuellen Freiheit setzen soll. Das, was wir als neues Ich-Ideal sehen, Masken, Impfen, zu Hause bleiben, soll der Staat mit Über-Ich-Gesetzen durchsetzen. Das ist ein Kulturbruch.

Der Staat erschien ihnen in der Pandemie aber nicht als Autorität, auch nicht als Verkörperung des Allgemeinen in der Gesellschaft. Er galt ihnen eher als Erfüllungsgehilfe für die Vorstellung, wie der Einzelne geschützt werden kann. Er war die Instanz, die das durchsetzen sollte.

Es ist aber zumindest die neue Akzeptanz, dass es für die Änderung des Allgemeinen eben doch den Staat braucht, dessen Politik von demokratischen Mehrheiten gestützt wird, während wir davor in unserem Narzissmus dachten, dass das alles über unser Ich-Ideal laufen wird.

Ich glaube, in der Pandemie gab es diese trügerische Vorstellung, dass der Staat auch eine andere Funktion übernehmen kann. Die Funktion der Fürsorge. Was mir auch wichtig erscheint: In der Abwesenheit von Über-Ich-Gesetzen, die wir ja abgebaut haben, haben Regeln plötzlich eine neue Funktion bekommen.

Hände waschen, keine Hände mehr geben, Duschen maximal 90 Sekunden, Raumtemperatur maximal soundso?

Diese Regeln sind zu einer neuen Garantie geworden. Da wir das Ideal nie erreichen können, wird das Erfüllen, das Einhalten der Regeln zu einer Ersatzerfüllung.

Das wird uns nicht retten. Die sozialökologische Transformation kommt nicht voran, indem ich weniger dusche, sondern durch verschiedenste politische Regulierungen, die im Energie- und Wirtschaftssektor in großem Ausmaß CO2 reduzieren.

Zu dem Wort Rettung kann ich nichts sagen. Ich denke, dass es innerhalb des Narzissmus keinen Hebel gibt, mit dem man zu einem Ausweg gelangt.

Wir sind also verloren in unserem Narzissmus?

Im Narzissmus selbst ja. Die Veränderung muss von außen kommen. Ich glaube, dass wir für die Krisen, die jetzt auf uns zukommen werden, mit unserem Narzissmus denkbar schlecht gerüstet sind. Die einzigen politischen Projekte derzeit sind rechte Projekte. Das ist die Wahrheit, der man ins Auge sehen muss. Das ist unser Problem.

Interview: PETER UNFRIED

Dieser Beitrag ist im Dezember 2022 in taz FUTURZWEI N°23 erschienen.

.
.