Phillip Boa: "Alt werden? Ist doch scheiße"
Indie-Papst Boa sieht seine Aufgabe darin, seinen "Ruhm zu verwalten". Auf dem neuen Album pendelt er weiter zwischen Größenwahn und Sensibilität.
V or dem Fenster spannt sich ein blauer Himmel über eine graubraune Brandmauer. Ein trister Ausblick. Phillip Boa aber sagt grinsend, nach einem kurzen Blick nach draußen: "Das gefällt mir - das ist wie zu Hause."
Eigentlich ist sein Zuhause ein geteiltes. Boa verbringt seine Zeit dieser Tage zwischen Dortmund, Malta und New York. Die "geile Aussicht" erinnert ihn, meint er, vor allem ans Ruhrgebiet. Tatsächlich aber spricht der Blick aus dem Fenster des Konferenzraums einer Berliner Plattenfirma von mehr als nur von der regionalen Herkunft eines gewissen Ernst Ulrich Figgen, der sich Phillip Boa nennt. Das Panorama vor dem Fenster erzählt fast mehr über Deutschlands selbsternannten Indie-Papst als es ein Gespräch in eben diesem Konferenzraum über sein neues Album "Faking To Blend In" kann.
Denn der Ausblick illustriert perfekt die ideelle Heimat von Boa. Die Brandmauer steht für die Achtzigerjahre, für die jugendliche Flucht aus der Provinz in die urbanen Zentren, für den Niedergang, den man damals lustvoll feierte, für ein Gefühl von Vergeblichkeit, das Boa damals umarmte, ebenso wie für eine geistige Enge, der er unbedingt entfliehen wollte. Der Himmel darüber schließlich war stets die einzige Grenze, die sich Phillip Boa jemals setzte.
Auch heute noch, mit mittlerweile 44 Jahren, neigt Boa zum Größenwahn. "Es gibt keinen mehr wie mich", sagt er. Zu einem seiner neuen Songs: "Das soll erst mal jemand nachmachen in diesem Land." Auf die Frage, ob er eine Institution sei, antwortet er ohne Zögern: "Ja, das ist schon richtig." Und auf etwas ist er besonders stolz: "Ich bin ein Totalindividualist - wie Mark E. Smith." Boas Lieblingswort ist "Bullshit". Der Großteil der deutschen Bands; Singen in deutscher Sprache; ihm vorzuwerfen, er sei ein Popstar; die eigene Plattenfirma, die ihn zwang, für "Faking To Blend In" mit einem Produzenten zu arbeiten - alles Bullshit.
Aber es gibt auch einen zweiten, ganz anderen, sensiblen Boa. Einen Boa, der sich die Haare aus der Stirn streicht, abwesend durch den Raum blickt und sagt: "Ich hatte lange Jahre voller Selbstzweifel. Wenns gar nicht mehr gut liefe, wenn die Konzerte leer wären, dann wäre das ein Drama für mich." Musik nur für sich zu machen, das kann sich Boa nicht vorstellen, "das wäre sinnentleert". Manchmal treffen die beiden verschiedenen Boas, der größenwahnsinnige und der sensible, sogar im selben Satz aufeinander. "Man rennt dem Standard hinterher, den man selber gesetzt hat", ist so ein Satz. Aus dem Satz spricht einerseits die Unsicherheit, im sich immer schneller werdenden Popgeschäft nicht mehr mithalten zu können, andererseits aber auch die Selbstüberschätzung, einmal ewig gültige, musikalische Maßstäbe gesetzt zu haben.
Denn ob dem wirklich so ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. An Boas Platten aus der Zeit, in der er sogar international reüssierte, an "Hair" von 1988 oder "Hispanola" von 1990 hat der Zahn der Zeit doch arg genagt. Es sind Dokumente einer Ära, deren Sound heute antiquiert wirkt und sich weitgehend widerspruchslos einpasst in das grassierende Eighties-Revival. Denn schließlich ist Boa zuvorderst erst einmal glühender Verehrer der britischen New Wave. Andererseits aber sorgen ein ungelenker Willen zum avantgardistischen Ausdruck und nicht zuletzt der mit einem schweren deutschen Akzent geschwängerte englische Gesang für die doch große Wiedererkennbarkeit der Marke "Phillip Boa & the Voodooclub".
Diese Marke wurde über die Jahre zwar beständig umbesetzt, aber der entscheidende Faktor blieb erhalten: Pia Lund singt auch auf "Faking To Blend In" noch engelsgleich und bildet so einen bewussten Kontrast zu Boas Unstimme. Auch ansonsten, das weiß Boa selbst am besten, besteht seine Hauptaufgabe mit dem neuen Album darin, den eigenen "Ruhm ein bisschen zu verwalten". Ob er in "Girl Is A Runner" mit elektronischen Beats experimentiert, ihm mit dem Titelsong ein hübscher Popsong gelingt oder er in "Queen Day" romantisch wird - Boa bezieht sich vor allem auf Boa, und damit bleibt Boa Boa.
Und das wohl vorerst noch länger: Er hat beschlossen, den in den letzten Jahren immer wieder mal angekündigten Rücktritt nicht mehr zu diskutieren. "Übers Aufhören reden, das ist Koketterie", sagt er heute, "wenn ich aufhöre, dann hör ich einfach auf." Noch aber ist es nicht so weit. Noch bleibt uns der allerletzte aufrechte Anhänger des Indie-Gedankens erhalten. In einer Zeit, in der Bands mit Lizenzierungen mehr verdienen als mit Plattenverkäufen, weigert sich Boa standhaft, seine Songs für die Werbung freizugeben - und auch Einsätze in Fernsehserien oder Filmen gestattet er nur, "wenn das cool ist". TV-Auftritte lehnt er ab, und sich persönlich im Radio anzudienen, das macht er nur in Ausnahmefällen mit. "Bis zur Selbstzerstörung" will er auch weiterhin "gegen den Strom" schwimmen.
Dann kommt der größenwahnsinnige Boa wieder zum Zug: "Man kann die ganze Welt kaufen, aber mich nicht. Mir fehlt der Vermarktungswille", sagt er, und tatsächlich ist seine Karriere geprägt von einer Verweigerungshaltung, die aus dem apokalyptischen Geist der Achtziger geboren ist: Wenn die Welt morgen untergeht, können wir heute noch mal auf dem Rand des Vulkans tanzen.
Dann aber ging die Welt nicht unter. Stattdessen kam das Alter. Auch für Phillip Boa. "Warum soll man denn alt werden? Das ist doch scheiße", sagt er. "Erwachsen werden?" Dann macht er dieses abfällige Geräusch, das in Comics "Pfft" heißt, und blickt noch mal aus dem Fenster.
Phillip Boa & the Voodooclub: "Faking To Blend In" (Motor Music/Edel) Live: 24. 8. Rostock, 14. 9. Cottbus, 20. 9. Frankfurt a. M., 21. 9. Magdeburg, 22. 9. Halle, 24. 9. Oldenburg, 25. 9. Hannover, 26. 9. Berlin, 27. 9. Erfurt, 28. 9. Dresden, 29. 9. Glauchau, 2. 10. Hamburg, 4. 10. Bochum, 5. 10. Köln, 11. 10. Karlsruhe, 12. 10. München, 13. 10. Osnabrück
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“