: Phantasiereisen im Klassenzimmer
■ Ein Ball macht Schule: Bewegtes Wippen gegen Haltungsschäden Von Katrin Wienefeld
Die Revolution ist rund, groß und grün. Die Parolen lauten: Bloß nicht stillsitzen! Wipp Dich – vor und zurück! Beweg' die starren Glieder, wenn Dein Körper es befiehlt! Zappelei ist Pflicht und Dynamik herrscht vor. Das Ziel: Bewegtes Wippen.
Wo sie stattfindet? Bei den Kleinen. Zum Beispiel in der Max-Brauer-Gesamtschule: Dort wippen die Zwerge der 4a schon wie Alte auf den Fitbällen. „Ich kann so viel besser schreiben“, sagt die neunjährige Sema. Und die zehnjährige Nergiz weist auf die Stelle am Rücken, kurz über dem Po: „Da tut's dann gar nicht mehr weh bei langem Sitzen“.
Sollte da tatsächlich eine ganze Generation körperlich entspannter Menschen ohne Rückenleiden, Migräne und Bandscheibenschäden heranwachsen? Zur Zeit leiden rund 18 Millionen Bundesbürger, die in den zweifelhaften Genuß der „Sitz gerade“-Pädagogik geraten sind, trotz orthopädischer Versorgung unter akuten und chronischen Rückenschmerzen. Erzogen und zum Sitzen gezwungen auf Schulmobilar, das auch heute noch „eher mangelhafte Noten erhalten sollte“, kritisiert der Hamburger Sportwissenschaftler Andreas Brannasch.
Brannasch, Bewegungsberater der AOK, unterrichtet auch Lehrer bei den ersten Annäherungen an den körperbewußteren Unterricht. Schließlich, so weiß Lehrerin Frauke Volkmer, habe es eine Klasse wippender Viertkläßler in sich: „Zu Anfang bin ich ganz schön nervös geworden, wenn die da so bewegt drauf gesessen haben“, sagt sie. Doch die positiven Auswirkungen sind schnell zu merken: „Die sitzen jetzt so schön gerade und fallen weniger hin als von den Holzstühlen“.
Doch nicht nur die Balance wird so geübt. Auch die Konzentrationsfähigkeit nimmt bei der ermüdenden „Stillarbeit“ im rechtwinkligen Sitzen sehr schnell ab. „In Starre läßt es sich schlecht lernen“, sagt Brannasch. Auch seien die Kinder, so beobachtete Volkmer, auf den Bällen ständig „mit beiden Füßen auf der Erde“.
Doch auch die Fitbälle haben so ihre Tücken. Da sie nicht für ständiges Sitzen geeignet sind, müssen die alten Holzstühle stehenbleiben. „Das gibt ein enormes Platzproblem“, sagt Volkmer. Und runde grüne Bälle sehen zudem verflixt gleich aus. Wie also den geliebten Eigenen erkennen? Nadine hat das Problem schon mit kindlicher Genauigkeit gelöst: „Das merk ich am Stöpsel“, sagt sie.
Wenn sich fortschrittliche Pädagogen durchsetzen, dürften Nadine und ihre Freundinnen auf noch mehr Körperübungen im Unterricht hoffen. Norbert Baumann vom Institut für Lehrerfortbildung hat schon eine Broschüre darüber geschrieben. Denn im Unterricht sei vieles möglich: „Phantasiereisen und kleine Kunststückchen“, erklärt Baumann. Alles in Entspannungshaltung, „hinsetzen und den Kopf auf die verschränkten Arme legen, die Augen schließen und der Stimme des Lehrers lauschen“. Die Zutaten für die Traumreisen sind einfach: „Viel Natur und Sonne“. Die Kunststückchen, die körperliches und seelisches Gleichgewicht hervorrufen können, sind schon schwieriger: „Überkreuz Nase und Ohr gleichzeitig anfassen“. Wie bei Dick und Doof, den Revolutionären gegen verspannte Spießigkeit. Die wußten eben auch schon, was gut tut.
Die Fitbälle gibt es in vier Größen für kleine und große Leute. Anfänger sollten nicht länger als 15 Minuten drauf sitzen, geübte Wipper dürfen zwei bis drei Stunden. Sie kosten zwischen 30 und 43 Mark, zu bekommen bei jeder AOK-Geschäftsstelle. Schulklassen können ein Sechserpack für 150 Mark bestellen.
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