: Phantasien eines leidenschaftslosen Onanisten
■ Zum Roman „Janine, 1982“ von Alasdair Gray
Onanie ist ein Spiel mit der Erinnerung, manchmal freudlos, zwanghaft, manchmal kreativ und befriedigend. Es ist ein Spiel mit festen Regeln, es hat ein bestimmtes Ziel und es erlaubt nur eine begrenzte Zahl von Bewegungen, mit denen sich dieses Ziel erreichen läßt. Das Spiel hat einen Anfang, einen Höhepunkt und meistens auch ein Nachspiel. Der Schotte Alasdair Gray ist nicht der erste Autor, den diese Form der Befriedigung an die Tätigkeit eines Schriftstellers erinnert. Der Vergleich liegt auf der Hand: Onanist wie Autor phantasieren in einsamer Abgeschiedenheit, beide erschaffen eine fiktive Welt, in der sie die Bedingungen diktieren, und für beide liegt die Kunst eher im Hinauszögern als im Erreichen des Höhepunktes. „Ich hasse Orgasmen“, sagt Jock, „ich fühle mich immer so einsam danach.“
Jock MacLeishs Probleme sind nicht sonderlich originell. Er wird alt, er ist einsam, ein überzeugter Tory und ein Schotte. Sein Job - er installiert militärische Sicherheitsanlagen - langweilt ihn, und er leidet an Schlaflosigkeit. Deshalb hat Jock es sich in seinem Hotelzimmer bequem gemacht, die Vorhänge zugezogen und eine Flasche Whisky geöffnet. Er wird die Nacht in Gesellschaft seiner Träume verbringen oder, weniger romantisch gesprochen, er wird sich einen runterholen. Routiniert beginnt er mit dem Aufbau der ersten Szene im Theater seiner Phantasie. Auftritt: Janine oder Helga oder Diana oder Big Momma. Kostüm: hautenge Jeans und durchsichtige Bluse oder Minirock oder Shorts und Hemdchen mit oder ohne BH. Kleidung und Charakter des männlichen Personals bleiben eher unbestimmt, irgendwie macho, fordernd und männlich und über einsachtzig. Eine Frau wird überwältigt, entführt, gefesselt und in ihrer Hilflosigkeit einem männlichen oder lesbisch aggressiven Publikum vorgeführt, das sich für sie die allerübelsten Dinge ausmalt, sich aufgeilt, hechelt, lechzt. Bis hierher verläuft die Nacht nach Plan, und es wäre kein Wort über dieses Buch zu verlieren, wenn Jock seinen Phantasien ungestört nachhängen könnte.
Alasdair Gray ist ein Schotte aus Glasgow. Das hat so seine Nachteile. Nicht erst seit Mrs.Thatcher das Vereinigte Königreich regiert, behandelt London die nördliche Provinz, als wäre sie eine Kolonie des ehemaligen Empires. Kohlezechen und Schiffswerften, die beiden Haupteinnahmequellen Schottlands, wurden in den letzten Jahren bis auf wenige Ausnahmen stillgelegt. Wer das Geld oder entsprechende Qualifikationen hat, wandert in das wohlhabende England ab, die Arbeitslosenquote ist im Norden beträchtlich höher als im Süden. Vor diesem düsteren Hintergrund wächst seit einigen Jahren eine kräftige, bittere und überzeugende Literatur. Alasdair Gray, so kommentierte Anthony Burgess dessen genialen Erstlingsroman Lanark, habe zum ersten Mal wieder seit Sir Walter Scott den Anspruch der schottischen Provinz auf der literarischen Landkarte abgesteckt. Kritiker von 1982 Janine verglichen Gray mit Joyce und Beckett, doch eine irische Sonntagszeitung, auch das in guter Tradition, warnte ihre Leser vor dem pornographischen Schund des Schotten.
Jock leidet an „phantasia interruptus“. Wieder und wieder gerät ihm seine Geschichte über irgendeine Wortweiche aus dem Gleis. In den vertrauten, ritualisierten Text der Wichsphantasien platzen andere Stimmen. Erinnerungen verschaffen sich Gehör, schmuggeln sich an dem übermüdeten Jock vorbei in den Vordergrund und fordern Aufmerksamkeit. Jock wehrt sich gegen diese Einmischungen, so gut er kann. Er schreibt die Buchstaben in Fettdruck die Zeile entlang, um jede Anspielung auf sein Leben zu übertönen; er flüstert so leise, daß der Leser näher an den Text herangehen muß, wenn er noch etwas erkennen will. Er schreibt von links nach rechts, von oben nach unten. Er illustriert und verbarrikadiert seinen Text mit sämtlichen Zeichenvarianten seiner Schreibmaschinentastatur. Für ihn sind Buchstaben nicht bloße Bauelemente des Meinungsträgers Wort, sie sind Figuren seines Spiels, Piktogramme auf dem Weg zu den Höhepunkten seiner Phantasie, Beichte und Geheimnis. Für Setzer und Übersetzer müssen diese Textpassagen eine höllische Arbeit gewesen sein.
Wenn ihn sein Szenario so sehr erregt, daß er die Kontrolle zu verlieren droht, räsoniert er flugs über schottische Geschichte, über die radioaktiv verseuchten Müllplätze in den Highlands, über Vietnam, die Kirche, das Sexleben der Frauen, über Politik - und dann reißt er sich wieder am Riemen, unterbricht sich in seinen Abschweifungen, will sich von Konventionen des Erzählens die eigentliche Geschichte nicht länger aus der Hand nehmen lassen. Jock ist der Direktor, der Schauspieler, das Publikum und der Kritiker der Aufführungen seines intimen Theaters. Doch an diesem Abend drängt sich zu später Stunde noch jemand in Jocks Privatvorstellung.
Auftritt: Mister „G“. Dieser Herr souffliert seine Regieanweisungen in Jocks Suada. Er sorgt dafür, daß Jock die weißen Pillen wieder erbricht, mit denen er gerade erst die Vorstellung endgültig beenden wollte. Dann verschafft Mr.„G“ oder Sir Gott oder Herr Gewissen den verdrängten Stimmen Raum. Und Jock erzählt. Eine völlig andere, also ganz und gar die gleiche Geschichte. Ein Junge in einem früheren Glasgow, der Vater Bergarbeiter und schweigsam, die Mutter verhärmt und still. Grauschwarze Vorstadtatmosphäre. Der Junge wird ein Student, macht seine ersten Erfahrungen in Sachen Liebe, träumt davon, die Welt zu verbessern, darf einmal beim Fringe-Festival in Edinburgh auftreten und - von da an geht es nur noch bergab. Irgendwann verliert Jock seine Freunde, dann seine Hoffnungen. Er hat einen Job mit regelmäßiger Arbeitszeit bei einer Firma für Sicherheitssysteme gefunden, hat sein Leben mit Vorwarnsystemen gegen jede Unregelmäßigkeit geschützt und faltet jeden Abend seine Unterwäsche, bevor er seinen Pyjama anzieht. Seine Frau hat ihn vor Jahren bereits verlassen, der letzte Sex liegt noch nicht ganz so lange zurück. Er bleibt einsam, der trostlose Job läßt ihn zur Flasche greifen und, ebenso regelmäßig, unter den Gürtel nach den schlaffen Träumen, aus denen sich vielleicht noch ein letzter Funke Lust herauspolieren läßt...
Als komplementäres Spiegelbild zum experimentierfreudigen ersten Teil des Buches werden dem Leser mit der zweiten Hälfte die biographischen Details aus dem Leben des Jock MacLeish vor seinem Selbstmordversuch in traditioneller Erzählform nachgereicht. Der Text läuft schnurgerade vor sich hin, Abweichungen sexueller wie typographischer Art sind nicht mehr zugelassen. Alasdair Gray kann auch auf diese biedere Weise noch ein gutes Garn spinnen, aber die Geschichte verliert ihren Witz. Ungerührt liest der Leser, wie Jock schluchzend und überwältigt vom sentimentalen Kitsch seiner eigenen Lebensbeichte ein Gläschen Hoffnung kippt und sich danach eine Dosis Besserungswünsche verabreicht. Ein banales Ende zu einem Roman, der seinen Höhepunkt und seinen kleinen Tod überschritt, als er ziemlich genau in der Mitte des Buches aus aller Sprache heraus in die weißen Seiten des Unbeschreiblichen sprang. Danach blieb nur der schale Rest post-onanistischer Tristesse.
Bernhard Robben
Alasdair Gray: „Janine, 1982“, aus dem Englischen von Bernd Rullkötter, Rowohlt Verlag, 395 Seiten, 48 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen