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■ Tarifkompromiß im öffentlichen DienstPhantasielos

Geschenke werden, besonders in wirtschaftlich schlechten Zeiten, bei Tarifrunden nicht gemacht. Das mußte nach der IG Chemie und der IG Metall gestern auch die ÖTV bitter erfahren. Dennoch, der Tarifabschluß im öffentlichen Dienst fiel für die Beschäftigten besser aus, als es angesichts der leeren Staatskassen und der bis zuletzt sturen Haltung des Innenministers zu erwarten war. Zwei Prozent mehr Lohn und Gehalt für die Staatsdiener, für die unteren Lohngruppen weniger Nullmonate als für die Bezieher mittlerer und höherer Einkommen – das ist mehr, als die nominale Nullrunde den Metallern gebracht hat. Und der Großteil jenes zwölf Punkte umfassenden „Gruselkatalogs“ der Arbeitgeber zur Kostenentlastung verschwand wieder in der Schublade.

Der ÖTV, herausgefordert durch das drohende Lohndiktat der Regierung und unter wachsendem Druck ihrer Basis, ging es vor allem darum, die Reallohnverluste in Grenzen zu halten. Das ist ihr wohl gelungen. Doch Grund zum Jubeln gibt das Ergebnis noch lange nicht. Sicher, die ohnehin gegenüber der Privatwirtschaft niedrigeren Löhne werden auch mit der mageren Zulage die Arbeit in Krankenhäusern, Altenheimen oder bei der Müllabfuhr nicht attraktiver machen. Das Beklemmende jedoch ist, daß Wirtschaftskrise, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit die ÖTV wenig zu schrecken scheinen, kann sie sich doch wie keine andere DGB-Gewerkschaft darauf verlassen, daß die Jobs trotz konjunkturbedingter Steuerausfälle zumindest im Westen längst nicht so wackeln wie in der privaten Wirtschaft. Und die Dienstherren haben ihre Fürsorgepflicht eigentlich nie ernsthaft vernachlässigt. Wozu also ernsthaft über beschäftigungsschaffende Maßnahmen wie weitere Arbeitszeitverkürzungen nachdenken, über Umverteilungskomponenten zugunsten der unteren Lohngruppen, über Lohnabbau als Solidaritätsbeitrag zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen? Daß der ÖTV, der Gewerkschaft der Bürokratie, beschäftigungsfördernde Ideen wie jene des Politologen Peter Grottian nicht eine Silbe wert sind, zeigt ihre gesamte Initiativ- und Tatenlosigkeit auf.

Bezahlen müssen den Ausgang des ersten gesamtdeutschen Tarifpokers die 1,25 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst Ostdeutschlands. Sie haben sich nicht nur, wenn das jetzige Tempo beibehalten wird, bei der Angleichung ihrer Einkommen an das West-Niveau bis zur Jahrtausendwende zu gedulden; ihnen steht auch ein rapider Arbeitsplatzabbau bevor. Denn Länder und Kommunen im Osten schleppen noch immer einen Personalüberhang von rund 30 Prozent mit sich. Um so fataler für die Ost- KollegInnen ist, daß sich die ÖTV nicht mit Vehemenz für neue Arbeitszeitmodelle eingesetzt hat. Gerade der öffentliche Dienst hätte Vorbildfunktion in einer zu Ende gehenden Arbeitsgesellschaft sein können – eine verschenkte Chance. Erwin Single

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