: Phänomen oder Esel
Arrigo Sacchi, herbergerhafter Trainer des AC Mailand ■ P R E S S - S C H L A G
Als Arrigo Sacchi nach dem 1:0 des AC Mailand gegen Bayern München vor zwei Jahren bei einem Turnier in London plötzlich begann, fließend englisch zu parlieren, hielten ihn viele in der Bayern-Delegation für den Dolmetscher. Inzwischen wurde der 44jährige mit dem gebremsten Haarwuchs von der renommiertesten englischen Fachzeitschrift zum Trainer des Jahres und vom kaiserlichen Beckenbauer gar zur „Zukunft des italienischen Fußballs“ erkoren. Kein Zweifel, Arrigo Sacchi ist in der jüngeren Vergangenheit ein berühmter Mann geworden.
Als der großmächtige Finanzmagnat und Logenbruder Silvio Berlusconi geruhte, sich zur Erholung vom aufreibenden Streben nach Geld und Macht und zum Pläsier einen Zoo begnadeter Fußballer anzulegen, erkor er Signore Sacchi dazu aus, dieser Anhäufung von Stars beizubringen, wie man gemeinsam Fußball spielt. Dies tat der ein wenig herbergerhafte Mann, der den Fußball gern in knappe Weisheiten kleidet, ging zügig ans Werk - und dies mit durchschlagendem Erfolg.
Aus einer stabilen Abwehr um den gemeinhin untadeligen Libero Baresi heraus pflegt der AC mit schnellen, genauen Pässen das Mittelfeld zu überbrücken. Dabei sind alle Spieler in Bewegung, sie umzingeln überfallartig die gegnerische Abwehr, und mittendrin lauert Marco van Basten, bereit, sich in den Strafraum zu stürzen wie ein ausgehungerter Vampir auf die Halsschlagader seines Opfers.
Auf diese Art hat der AC Mailand so ziemlich alles gewonnen, was glänzt im Fußball - Europacup, Supercup und Weltcup -, obwohl die Mannschaft seit langem mit Handicap spielt, wie das der Trainer gern nennt. Sein bester Mann, Ruud Gullit, trägt seit einem Jahr nur noch sein freundliches Lächeln zum Erfolg bei, und nacheinander oder zugleich haben in dieser Saison sämtliche Nationalspieler das Krankenbett gehütet.
Sacchi macht das nichts aus, im Gegenteil: Er scheint es förmlich zu genießen, ständig neuen Kalamitäten ins Auge zu blicken und immer andere Formationen aus dem Hut zu zaubern, die dann prompt siegreich vom Platz gehen. „Ich habe stets geglaubt, daß der Mensch sich immer noch verbessern kann“, doziert er, und seine Ersatzspieler folgen ihm aufs Wort.
Ein bißchen nervös sei er nur, aber sonst ganz in Ordnung, sagt Ruud Gullit über seinen Trainer, der indes alle Elogen maliziös lächelnd mit dem Standardspruch erfolgreicher Trainer abwehrt: „Wenn du gewinnst, bist du ein Phänomen, wenn du verlierst, bist du der Esel.“ Phänomen oder Esel, das wird sich in knapp zwei Wochen erweisen. Eines hat Arrigo Sacchi allerdings bereits jetzt erreicht: Für den Dolmetscher hält ihn niemand mehr.
Matti
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