Pflegenotstand: Nachts zwei Pfleger für 100 Alte
Heute gehen Altenpfleger für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße. Der Senat solle sich im Bundesrat für mehr Personal in den Pflegeheimen einsetzen.
Zum bundesweiten Aktionstag zur Altenpflege ruft Ver.di für heute Nachmittag zu einer Kundgebung am Mönckebrunnen auf. Denn das Thema Pflege ist nach den Worten von Ver.di-Sekretär Norbert Proske in Hamburg besonders brisant. Zwar schloss Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) im Sommer mit Pflegebetrieben und Arbeitsagentur ein "Bündnis für Altepflege" und versprach, bis 2011 265 neue Ausbildungsplätze zum Altenpfleger schaffen. Doch das sei "nur ein erster richtiger Schritt", sagt Proske. "Man muss auch dafür sorgen, dass die Menschen in diesem Beruf bleiben."
"Das Problem ist, dass die Menschen diesen Arbeitsbereich immer schneller verlassen", erklärt Rolf von der Stroh, Ver.di-Vertreter bei "Pflegen und Wohnen". 450 Pflegefachkräfte fehlten allein, um in Hamburg den jetzigen Standard zu halten. Früher, vor der Pflegegeldreform, wären ausgebildete Fachkräfte fünf Jahre geblieben. "Inzwischen sind es nur noch zwei oder drei Jahre."
Hauptproblem sei die fehlende Zeit. "In der Nacht sind zwei Pflegekräfte für 90 bis 100 Bewohner zuständig", berichtet von der Stroh. Nicht selten müssten Pfleger neun, zehn Stunden arbeiten und bekämen danach noch nicht mal eine geregelte Freizeit.
In der Altenpflege gibt es in Hamburg über 400 unbesetzte Stellen.
Das "Bündnis Altenpflege" haben daher im Sommer der Senat, die Arbeitsagentur und die Hamburger Pflegebetriebe gebildet
Sein Ziel ist es, das Image des Berufs zu verbessern und in zwei Schritten die Zahl der Auszubildenden bis 2011 auf 440 Plätze zu steigern.
Die Stadt zahlt Ausbildungsbetrieben 450 Euro pro Lehrstelle, und zwar für Schulabgänger, die zwei Monate nach Beginn des Ausbildungsjahrs noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
100 Arbeitslose sollen zudem eine Umschulung zum Altenpfleger beginnen, 50 angelernte Pflegehelfer zum Altenpfleger weiterqualifiziert werden.
"Der Stellenschlüssel umfasst nicht das, was für eine ganzheitliche Pflege nötig ist", sagt Proske. Dass Pflegeheimbewohner einen Kulturabend außerhalb des Heimes besuchen, sei beispielsweise nicht möglich. "Es herrscht Fließbandpflege, nach dem Motto: Hauptsache satt und sauber", ergänzt Berno Schuchart, Ver.di-Vertreter bei der Diakonie. "Die Parkplätze vor Heimen sind schon vor Dienstbeginn voll, weil die Mitarbeiter unter Druck sind, ihr Pensum zu schaffen."
Auch bei den ambulanten Pflegediensten herrscht Kostendruck. "Für die Grundpflege, Waschen, Zähneputzen, und alles, was dazu gehört, haben wir 20 Minuten Zeit", berichtet Ver.di-Mitglied Stefanie Janssen aus ihrem Arbeitsalltag. Was darüber hinausgehe, werde nicht refinanziert.
Die Festlegung der Personalschlüssel ist Sache der Bundespolitik. Norbert Proske fordert vom schwarz-grünen Senat, eine entsprechende Bundesratsinitiative auf den Weg zu bringen. Zudem diskutiere Hamburg gerade ein neues Heimgesetz. Proske fürchtet, dass die Punkte, die Sicherung von guter Ausbildung und Fortbildung betreffen, auf Druck der Arbeitgeber "verwässert" werden. "Es muss möglich sein, ein Heim zu schließen, wenn es diese Auflagen nicht erfüllt."
Auch müsse Hamburg dafür sorgen, dass Betriebe nach Tarif bezahlen. Fast die Hälfte der Heime ist mittlerweile in privater Trägerschaft. Bei Häusern der Marseille-Gruppe und der Wagner-Gruppe werde die Gründung von Betriebsräten erschwert, berichtet Rolf von der Stroh. Ohne Betriebsrat sei es zum Beispiel schwer, das Recht auf freie Tage durchzusetzen.
Über diese Fragen hätten die Ver.di-Experten heute gern mit CDU-Sozialsenator Dietrich Wersich, seiner Staatsrätin Angelika Kempfert oder anderen Vertretern der Behörde diskutiert. "Wir haben leider Absagen bekommen", berichtet Proske. Immerhin kommen zu dem Streitgespräch alle vier pflegepolitischen Sprecher der Bürgerschaftsparteien.
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