: Pfiffe für die Götter
Trotz der glücklichen WM-Qualifikation steckt Brasiliens Fußball in der Krise / Europäische Nüchternheit statt Samba-Zauber ■ Aus Rio de Janeiro Jan Wiechmann
Mit Ach und Krach schaffte die Nationalmannschaft Brasiliens die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1994 in den USA. Doch auf dem mühsamen Weg dorthin gab es Pfeifkonzerte und wütende Verbalangriffe von Fans und Journalisten. Vieles stimmt nicht im brasilianischen Fußball.
„Fußball, Bier und Samba“ – mit diesem Logo glaubten die Generäle Brasiliens in den sechziger und siebziger Jahren das Volk bei Laune halten zu können. Und wie wahr: Der Zauber der großen Ballartisten um Pelé und Co. verwandelte das fünftgrößte Land der Erde in tagelange festas, außerplanmäßige Karnevalsfeiern, auf denen sich die in Gelb-Grün tanzenden Massen dem Rhythmus der Straße hingaben und die Unterdrückung für eine Weile vergaßen.
Den Diktatoren folgten 1985 Demokraten, die sich an demokratische Spielregeln nur selten hielten und wenig an der Dauermisere Brasiliens änderten. 30 Millionen Menschen leben unter der schon niedrig angesetzten Armutsgrenze, die Inflation liegt bei über 30 Prozent im Monat, und in den Favelas, den Slums Brasiliens, liefern sich Polizei und Drogensyndikate einen offenen Krieg. Straßenkinder und Indianer sind Zielscheiben für Todesschwadrone und nimmermüde Goldgräber.
Ausgerechnet in diesen Zeiten beglückt auch O Futebol nur noch wenige Brasilianer. Seit dem letzten Titelgewinn bei der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko schied die Nationalmannschaft jedesmal frühzeitig aus. Im schwarzen Jahr 1993 ernteten die oft devot als Götter des Rasens verehrten Spieler erstmals wütende Pfeifkonzerte statt des gewohnt liebevollen Samba-Fiebers auf den Rängen. Die Nationalelf sei eine Mischung aus europäischer Kraft und brasilianischer Dekadenz, riefen die sonst so optimistischen Fans und die Leitartikler der großen Tageszeitungen. Die Bilder der magischen Hackentricks, des improvisierten Sambas auf dem Spielfeld und der gelb-grünen Harmonie zwischen Rasen und Rängen stammen aus der staubig gewordenen Archivkiste. Der auch in den europäischen Köpfen noch immer präsente Mythos ist dahin. Die zwischen 1958 und 1970 uneingeschränkte Nummer eins des Fußballs muß nun mitansehen, wie sie auf dem eigenen Kontinent von Fußballzwergen wie Bolivien und Ecuador ausgetrickst wird. Die Qualifikation für die WM 1994 in den USA hat das Team des verhaßten Trainers Carlos Alberto Parreira gerade noch geschafft, doch an den Titel glaubt niemand mehr. Auch nicht die in der Welt so gerne gesehenen Journalisten, die schweißüberströmt und auf den Sitzen tanzend ihre „Goooool“-Schreie über die Haupttribünen der Stadien schicken. Für Joao Bosbocher von der Tageszeitung Correio da Bahia, der den brasilianischen Fußball seit 25 Jahren durch die Welt begleitet, ist „O Futebol“ der Inbegriff des Niedergangs. Die Spieler wanderten in Scharen und teilweise noch als Teenager ins Lire- und Mark-Paradies Europa ab und hätten weder Interesse noch die Würde, für ihr Land zu spielen. „Die Hiergebliebenen verdienen Hungerlöhne. Unser Land hat abgewirtschaftet. Es ist am Ende.“
Die Kluft zwischen den „Ausländern“, wie sie despektierlich bezeichnet werden, und der Heimatschar wurde bei den peinlich schlechten Spielen während des Copa America im Juni und der WM-Qualifikation immer größer. Selbst die auflagenstärkste seriöse Tageszeitung Folha do Sao Paolo sprach von den „verhaßten Ausländern“, die lieber in Europa bleiben sollten. Hauptzielscheiben heftiger Wortattacken sind vor allem der in Stuttgart spielende Dunga und der nach Japan ausgewanderte Careca, die mit ihrem europäischen Stil jeder brasilianischen Fußballidentität entsagt hätten. Auch Bayerns Außenverteidiger Jorginho sähen die meisten Brasilianer lieber durch Eigengewächse ersetzt.
So erleben im fernsehhörigen Brasilien die Videokassetten des zaubernden Königs Pelé und der Erfolgsmannschaft der sechziger Jahre einen wahrhaften Boom, während die wahre Kunst heute nur noch an den langen Stränden des Kontinents zelebriert wird. Einzig in Sao Paulo und im europäisch geprägten Süden haben die Zuschauer noch die Cruzeiros, um ins Stadion zu gehen. Fein säuberlich getrennt hat jeder Staat seine eigene Liga, Spiegel der wachsenden Regionalisierung des Landes, in der die Südstaaten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul immer lauter nach einer unabhängigen Republik rufen. Eine bittere Nuance erfuhr dieses Thema, als Parreira in seine Elf nicht einen Spieler aus Rio de Janeiro oder dem verarmten Nordosten berief. „Er tötet unseren Fußball“, schrieb O Globo.
Angesichts der tiefen Krise des brasilianischen Fußballs wurden wieder Stimmen laut, die nach einem Eingriff des Staates schreien, ähnlich den Interventionen des Militärs, das in den glorreichen Zeiten nicht nur zeitweilig den Präsidenten des Fußballverbandes stellte, sondern selbst Einfluß auf die Mannschaftsaufstellung nahm. Hysterische Züge nahmen die Hiobs-Szenarien der Sponsoren und Medienkonzerne an, die im Falle der Nichtqualifizierung Einbußen von rund einer Milliarde Dollar ausmachten. So ging ein kollektives Aufatmen durch das Land, als der Sieg gegen Uruguay die Fahrkarte sicherte. In solchen Momenten weicht der Zorn der Leidenschaft. Und dennoch: Futebol, Cerveja e Samba – das vor 25 Jahren noch unzertrennliche Trio Infernale der brasilianischen Repression bekam wie die Nationalmannschaft selbst einen tiefen Riß. Cerveja ist für viele kaum noch erschwinglich, der Fußball liegt darnieder, nur der Samba lebt noch – besser als je zuvor – und sprudelt in den schönsten Tönen und Farben aus der magischen Seele des Landes: dem armen und vernachlässigten Nordosten.
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