Neuer Dortmund-„Tatort“: Die Macht der manipulativen Kamera
Vom Plot her kein ungewöhnlicher Tatort: Herausragend aber, wie die Kamera dafür sorgt, dass das Misstrauen im Dortmunder Dezernat auch uns erfasst.
Der Fernsehkrimi ist dafür da, die Welt kurz vor dem Schlafengehen noch mal säuberlich in richtig und falsch zu teilen. Das behaupten Leute oft. Und da ist auch was dran. Bei vielen – womöglich gar den meisten – Krimis fühlen wir uns einigermaßen moralisch geerdet. Dabei hilft die filmische Gestaltung.
Je nach Kameraeinstellung wissen wir nämlich: Aha, das ist jetzt der geradlinige, stabile Blick des Herrn Kommissar, dem können wir trauen. Das andere, diese wacklige Einstellung von rechts oben, das ist ganz bestimmt der Täter.
Der Dortmunder „Tatort“ dagegen ist so einer, der hat schon immer mehr zugemutet. Hauptkommissar Faber (Jörg Hartmann) als krummer Hund tat selten „das Richtige“, auch wenn er auf der richtigen Seite stand. Im Laufe der Jahre sind er und seine Kolleg:innen so oft moralisch fragwürdig abgebogen, dass von „richtiger Seite“ schon lange keine Rede mehr ist.
Im neuesten Dortmund-Fall „Abstellgleis“ sind wir nun in einer Situation, in der alle unter Verdacht stehen. Faber sowieso, aber auch Herzog (Stefanie Reinsperger), und im Laufe des Films eigentlich jeder. Weshalb und warum, das will ich noch gar nicht verraten, die Wendungen dieses Films möchte ich Sie selbst erleben lassen. Es lohnt sich, vor allem für diejenigen, die eine Prise Unwohlsein in der Magengrube ganz anregend finden.
Den Boden wegziehen
Vom Drehbuch her ist der Film recht gewöhnlich, ein klassisches „Wer hat’s getan“, mit jede Menge falschen Fährten und ein bisschen „Noir“. Herausragend ist, wie die Kamera dafür sorgt, dass das Misstrauen, welches nach und nach im Dezernat um sich greift, auch uns erfasst.
Denn wo die gewöhnliche Krimikamera das Publikum auf einen sicheren Beobachterposten stellt, zieht sie uns hier mitten hinein und zugleich den Boden weg. Sie verweigert jede Eindeutigkeit, wechselt ständig die Position, verunklart, wenn wir Klarheit gerade nötig hätten.
Besonders gerne nimmt sie den „Verfolgerblick“ ein: zwei Schritte hinter der Person, die Perspektive, die wir aus Horrorfilmen kennen, die uns aufspringen und rufen lässt: „Dreh dich doch um, verdammt!“ Und schon ist sie woanders, schwebt wie eine Drohne hoch oben oder duckt sich hinter Gegenstände, schaut durch Glasscheiben wie ein Stalker.
In Dialogszenen wechselt die Einstellung hin und her zwischen intimer Nähe und sicherem Abstand. Sitzen wir mit diesen Leuten jetzt zusammen am Tisch wie Freunde oder beschatten wir sie?
Schamlos nutzt die Kamera unsere Erwartungen als Krimipublikum aus. Mit kurzen Sequenzen von Blicken weckt sie Verdachtsmomente, die im Film erst später Thema werden. Wenn Sie derlei Kniffe so gerne aufdröseln wie ich, können Sie in der Mediathek ja mal zu Minute 26:08 springen, als ein Beispiel für das, was ich meine. Und sich vielleicht wie ich ertappt fühlen, weil Sie sich dort haben lenken lassen.
Ich möchte der Kamera nicht zu nahe treten (Regie: Torsten C. Fischer, Bildgestaltung: Andreas Köhler), aber ihr Verhältnis zu uns, dem Publikum, hat in diesem Film etwas von einer manipulativen Beziehung.
Für eine „Tatort“-Reihe wie Dortmund, die uns schon immer gerne moralisch seekrank gemacht hat, ist das natürlich, genau: das Richtige.
Dortmund-„Tatort“: „Abstellgleis“, So., 20.15 Uhr, ARD
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