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Peter Unfried Die eine FrageSind Sie auch ständig „fassungslos“?

Foto: Marco Limberg/X-Press

Ständig passiert was, und jedes Mal sind wir guten Leute „fassungslos“. Jedenfalls drängt es uns, das so zu formulieren. Man ist fassungslos wegen Trump, wegen Putin, wegen you name it. Man ist inzwischen so oft fassungslos, dass man abstumpft, weil es zum Normalzustand zu werden droht. Letztlich steht diese Fassungslosigkeit für Hilflosigkeit in moralischer Sauce. Das kann es ja wohl nicht sein. Deshalb ist es notwendig, die Bedeutung des Wortes zu konkretisieren.

Zum Beispiel schrauben wir eine Energiesparlampe in eine Fassung, und dann wird es emissionsarm Licht. Und genauso war unsere vergleichsweise sehr leuchtende Art zu leben in eine Fassung geschraubt aus Westen, stabiler Demokratie, stabilen USA, stabiler fossiler Wirtschaftskraft und damit finanziertem Sozialstaat, fortschreitenden emanzipatorischen Freiheitsgewinnen und kostenarmem Frieden in (Mittel-)Europa.

Diese Fassung könnte es nicht mehr lange geben, stimmt. Aber, und das ist zentral: Im konkreten Sinne sind wir derzeit noch längst nicht fassungslos. Wir werden indes bald fassungslos sein, wenn uns nichts Besseres einfällt, als zu sagen, dass wir fassungslos seien und uns damit zu paralysieren.

Ein Freund und engagierter Exeget der Weltlage sagt inzwischen ständig, dies und das sei ja „verrückt“. Geopolitisch, innenpolitisch, alles sei „verrückt“ (außer Robert Habeck und Karl Lauterbach). Auch das ist – unabsichtlich – eine präzise Analyse. Die Dinge, die Vereinbarungen, das Denken und das Sprechen sind oder werden ver-rückt, also sind nicht mehr da, wo sie gerade noch waren in einer Gesellschaft, die einerseits in einem humanistischen Sinne der Aufklärung verpflichtet ist und andererseits aus menschlicher Schwäche oder dysfunktionaler Kultur essenzielle Grundlagen ausgeblendet hat. Will sagen: Es ist nicht automatisch schlecht, wenn etwas ver-rückt, die Frage ist aber, wer verrückt was?

Auf der einen Seite wollen antidemokratisch Interessierte eine autoritäre Verrückung und greifen dazu nach dem bewährten Drehbuch Minderheiten, Medien, Wissenschaft, Gerichte, Parlamente und übrigens auch Marktwirtschaft an. Mit dem Geheule, ihre Freiheit sei bedroht, und dem Schauermärchen, es gebe eine „grünlinke“ Unterdrückungs-Hegemonie, versuchen medial besonders Privilegierte flankierend die Freiheit der anderen zu stehlen.

Diese Leute haben einen festen Plan, starke Netzwerke, funktionierende Methoden. Auf der anderen Seite stehen wir. Und bei dem Wort „wir“ geht’s schon los. „Ja, aber wer ist denn wir?“, ruft bei dem Wort verlässlich ein ganz besonders 08/15-Kritischer und damit ist das Gemeinsame erledigt und jeder geht wieder in seine Untergruppe derer, die jeweils im Besitz der höchsten moralischen Interessen und der größten Wahrheit sind. Das ist auch eine Folge der Entwicklung zu einer offenen, pluralistischen und individualistischen Gesellschaft.

Peter Unfried ist Chef­reporter der taz.

Die Blasen-Betkreise bringen es definitiv nicht, wenn es um gemeinsame Zukunft geht. Aber die emanzipatorische Entwicklung zu einem Nebeneinander der Vielfalt darf man jetzt auch nicht aufheben wollen mit einer antiquierten Links-rechts-Frontstellung oder einem Blut-Schweiß-Tränen-Befehl zum Marsch im Gleichschritt gegen den autoritären Angriff.

Unsere Differenz ist die gemeinsame und zu schützende Errungenschaft der liberalen Demokratie. Und die liberale Demokratie ist Grundvoraussetzung, um unsere Konflikte austragen zu können und eigene Prioritäten mehrheitsfähig zu machen. Die Grundbedingungen für den Erfolg gegen Demokratiefeinde sind also Mitte und Mehrheit, eine demokratische Interessengemeinschaft, die von Linksaktivisten bis Rechtskonservativen reicht.

Es ist nicht automatisch schlecht, wenn etwas ver-rückt

Jetzt könnte man sagen: Das ist doch verrücktes Denken? Na, klar. Genau darum geht es.

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