Peter Sloterdijk über die Finanzkrise: "Nur Verlierer kooperieren"
Peter Sloterdijks neues Buch kommt im Befehlston daher: "Du mußt dein Leben ändern". Ein Gespräch über die "Massenfrivolität" des Neoliberalismus und die Krise als Katastrophenfilm.
PETER SLOTERDIJK
ist Professor für Philosophie
und Ästhetik sowie Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seine bekannteste Arbeit ist die zweibändige "Kritik der zynischen Vernunft" von 1983. 1999 löste Sloterdijk mit seiner Elmauer Rede "Regeln für den Menschenpark" einen Streit über die Anwendung von Gentechnologie aus.
"Du musst dein Leben ändern". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 714 Seiten, 24,80 €
taz: Herr Sloterdijk, muss ich mein Leben ändern?
Peter Sloterdijk: Vermutlich ja - unter der Voraussetzung, dass Sie sich in Hörweite des absoluten Imperativs begeben.
Wer spricht da zu mir?
In unseren Tagen ist es die globale Krise, und zwar die ökonomische, die ökologische, die kulturelle. Ich habe mit meinem Buch versucht, eine Art Megafon zu sein und zu formulieren, was aus der Krise unserer Zeit emaniert. Dabei geht es zunächst darum, die Realität der Krise überhaupt im Ernst zu begreifen. Wir müssen aufhören, die Krise zu ästhetisieren.
Passiert das im Augenblick?
Die westliche Krisenästhetik geht auf die Romantik zurück, seit einem halben Jahrhundert beherrscht sie die Weltmassenkultur. Wir haben es fertiggebracht, Naturkatastrophen und Sozialkatastrophen als Horrorgenre zu ästhetisieren. Die Katastrophe ist für uns vor allem ein ästhetisches Konzept.
Aber die Finanzkrise kann man sich nicht gut als Horrorfilm ausmalen, oder?
Da wäre ich mir nicht so sicher. Einerseits erleben wir sie als die Rückkehr des Realen, sie bringt die Rache des ökonomisch Realen am Imaginären des Börsenkasinos zum Zug. Hierbei sind im kollektiven Erleben die Ansätze zur Ästhetisierung unverkennbar - viele genießen die Krise auch ganz unverhohlen, weil sie "das System" bloßstellt. Die Sehweise des Theater- und Kinobesuchers ist so tief in uns eingepflanzt, dass wir die Gegenwart wie einen Katastrophenfilm erleben. Die basale Botschaft des Katastrophenfilms ist ja: Solange wir zuschauen, kann es nicht so schlimm sein.
"Du mußt dein Leben ändern" - ist das nicht etwas unscharf? Darunter kann die tägliche Übung, die ja auch der Neoliberalismus von uns gefordert hat, verstanden werden: Arbeite an dir, halte dich fit für den globalen Wettbewerb!
Der große Unterschied ist eben der, dass der Neoliberalismus eine Metaphysik des Mitmachens impliziert. Er wendet sich an den alten Adam in dessen schlimmsten Eigenschaften: Je gieriger du bist, umso besser drückst du dich selbst aus und desto besser passt du in den Betrieb. Der Imperativ, den ich rekonstruiere, erzeugt eine ethische Revolution, er verlangt die Distanzierung zum bisherigen Leben und setzt auf Diskontinuität.
Was ist da in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren passiert?
Man hat uns in ein psychopolitisches Großexperiment über Frivolität verwickelt - aber was auf dem Programm stand, war nicht mehr aristokratische Frivolität, sondern Massenfrivolität, Leichtsinn und Egoismus für jeden. Man hat in dieser Zeit behauptet, Gemeinwohldenken sei gescheitert. Also blieb der Asozialismus, den wir höflicherweise Individualismus genannt haben, um uns mit besseren Gefühlen zu ihm zu bekennen. Doch was sind konsequente Individualisten? Es sind Menschen, die ein Experiment darüber veranstalten, wie weit man beim Überflüssigmachen sozialer Beziehungen gehen kann.
Aber kann der Kapitalismus ohne diese "Gierdynamik", wie sie das einmal genannt haben, funktionieren?
Die Wahrheit dieses Systems ist eine doppelte. Einerseits wird der Mensch als Stoffwechsler enthüllt, und dies drückt eine unleugbare Wahrheit aus. Zugleich tritt ein anderer Aspekt der Wahrheit über die Lage des Menschen zutage: Wir gelangen durch entfesselten Konsum an die Grenzen der Naturproduktivität. Die Menschheit erweist sich als eine Gattung, die es fertig bringt, die Natur leerzufressen. Am bestürzendsten zeigt sich das beim Fischfang: Der Urlauber auf griechischen Inseln isst heute schon norwegische und finnische Fische, die über Nacht eingeflogen werden, weil die Ostägäis praktisch leergefischt ist.
Aber lautete die moralische Erzählung der liberalen Ökonomie nicht, dass der Eigennutz der Einzelnen in allgemeinen Nutzen umschlägt?
An sich ist dies ein höchst sympathisches Konzept, und es wäre zu wünschen, dass die Dinge so liegen. Es ist kein Zufall, dass selbst große Geister wie Kant mit diesem Modell sympathisiert haben - er hat zwar große Stücke auf den freien guten Willen gehalten, aber da er dem allein nicht die ganze Last der Sittlichkeit aufbürden konnte, setzte er zusätzlich auch auf den Marktmechanismus beziehungsweise die gegenseitige Zivilisierung der Egoismen. Wir sehen inzwischen, wie verfrüht diese Zivilisierungshoffnung gewesen ist.
In Ihrem Buch "Zorn und Zeit" haben Sie die Metapher "Zornbank" geprägt. Die wurde ja in jüngster Zeit sehr ironisch modifiziert - jetzt sind es Banken, die den Zorn auf sich ziehen.
Es soll Kreise geben, in denen das Ansehen des Bankers noch unter das des Kinderschänders gesunken ist. Aber das war mit "Zornbank" nicht gemeint.
Sie beschrieben politische Organisationen, die Zorn und Empörung in produktive Energien umwandelten, Parteien beispielsweise oder Gewerkschaften.
Das Konzept wird wieder aktuell, weil sich erneut die Frage stellt, ob es für die kollektive Empörung eine ansparbare und renditefähige Form geben kann.
Der Titel "Du mußt dein Leben ändern" deutet nicht darauf hin - das ist ja ein Imperativ, der sich an den Einzelnen richtet.
Wir leben am Ende eines Zeitalters vereinseitigter Weltveränderung. Seit der Französischen Revolution behauptet die Forderung nach Weltveränderung den Vorrang vor der Selbstveränderung. Doch dieses Schema greift nicht mehr - nachdem man gesehen hat, zu welchen Ergebnissen die gewaltsame Weltveränderung von außen im Kommunismus geführt hat. Selbst der historische Kompromiss der Nachkriegszeit, den man den rheinischen Kapitalismus nannte, dieser real existierende Semisozialismus, in seiner strahlenden Lächerlichkeit, ist unwiederholbar.
Halt! Der war doch das Funktionstüchtigste, das wir hatten!
Auch als Linker hat man ein Recht, ihm nachzutrauern.
Weil er schon existiert hat, geht von ihm kein utopischer Glanz mehr aus, auf ihm liegt der Schatten des Nostalgischen?
Dies ist das Paradoxon des progressiven Denkens seit jeher: Wir können den Menschen ehrlicherweise immer nur das Zweitbeste vorschlagen, und das scheint gegen die menschliche Natur zu sein. Die will das Beste, und wenn man als Realist nur Zweitbestes im Angebot hat, verletzt man eine Spielregel der psychischen Wirklichkeit. Darum hat es jede nichtutopische Linke schwer. Sie muss für Suboptimales Propaganda machen, von dem zudem nicht gewiss ist, ob man es erreicht. Wenn man heute etwas Großes versuchen wollte, müsste es eine ökologische Kühnheit sein.
Barack Obama versucht das gerade in den USA: Bankenrettung, gleichzeitig Sozialpolitik machen und obendrein ökologische Infrastrukturinnovationen. Kühnheit in der Krise lässt sich da doch attestieren.
Man könnte sagen, Obama hat den Imperativ "Du musst dein Leben ändern" ins Euphorische übersetzt, sodass nicht mehr von "müssen" gesprochen wird, sondern von "können" - "wir können das". Das war ja das Genialische an dem Slogan "Yes, We Can". Die Amerikaner wollen lieber können, als von einem Müssen überwältigt zu werden.
Simpel gesagt: Manchmal gibt es auch ein bisschen Glück in der Geschichte.
Was man am meisten braucht, ist zugleich das Unverfügbare.
Kommt jetzt der alte, verstaubte Begriff "Gemeinwohl" zurück?
In der Sache ja, aber auf der Ebene des Begriffs muss man tiefer ansetzen. Das Wort "Gemeinwohl" ist mit zu viel idealistischen, also betrugsverdächtigen Elementen belastet - man kann 200 Jahre Ideologiekritik nicht einfach vergessen machen. Wo Idealismus war, muss Realismus kommen. Gemeinwohlgesinnung ist unwahrscheinlich - ich muss also zeigen können, wie das Unwahrscheinliche wahrscheinlich wird. Genau das versuche ich in meinem Buch mit den Argumenten, die das Konzept Ko-Immunismus begründen. Wenn wir beweisen, dass wir das Eigene und das Fremde systematisch falsch unterscheiden, weil wir zu klein definierte Egoismusformate haben, so würde daraus folgen, dass wir ein größeres inklusiveres Eigenes schaffen müssen - nicht aus Idealismus, sondern aus wohlverstandenem weitsichtigem eigenem Interesse.
Das heißt ja Gemeinwohl: dass Kooperation mit anderen nicht Altruismus ist, sondern zu meinem eigenen Nutzen.
Schon, aber das muss bewiesen werden. Unter Siegertypen gab es seit je die stille Überzeugung: Nur Verlierer kooperieren. Tatsächlich, solange der Sieger alles nimmt, ist Solidarität eine Verliererparole. Wir werden beweisen müssen, dass das falsch ist.
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