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Penner haben keine Lobby

■ betr.:Bettelei in der Innenstadt

Auf der Sitzung des Beirats Mitte am 5. September 1988 wurde unter anderem das Thema „Bettelei in der Innenstadt“ diskutiert. Da die Äußerungen von CDU-und SPD -Beiratsmitgliedern das Stammtisch-Niveau nicht überschreiten, sondern sich eine einseitige Allianz mit den Geschäftsleuten der Innenstadt beziehungsweise eine erschreckende Ohnmacht der SPD, mit den Problemen der Stadt Bremen sachgerecht umzugehen, offenbart, bleiben wie üblich diejenigen auf der Strecke, um die es eigentlich gehen sollte.

Die Aussage von Beiratssprecherin Ulrike Schreiber (CDU), „niemand muß unter freiem Himmel schlafen,“ zeugt von ungenügender Sachkenntnis der Unterbringungs-und Wohnmöglichkeiten Bremens.

Tatsache ist, daß zuwenig geeignete menschenwürdige Unterbringungsmöglichkeiten existieren. In den wenigen, zur Verfügung stehenden Hotels für Wohnungslose herrschen oft nicht tolerierbare Zustände. Auch die Mehrbettunterkünfte der stationären Einrichtungen sind voll ausgelastet und können die Bedürfnisse der Wohnungssuchenden nicht befriedigen.

Da der Wohnungsmarkt für 1-bis 2-Zimmer-Wohnungen dicht ist (vergleiche Hans Leppin, Amt für Soziale Dienste, in „Buten und Binnen“ vom 6. September 1988), und nebenbei Asylsuchende und Aussiedler verstärkt die Hotels und Wohnungen nachfragen, bleibt eben doch den Menschen ohne Obdach oft nur die Übernachtung unter der Brücke, im Park, im Kellerloch, auf feuchtem und kalten Untergrund. Weiterhin ist fraglich, ob Frau Schreiebers Meinung, daß etliche Bettler eine Notlage nur vortäuschen und auf lukrative Einnahmen bedacht seien, auf eine repräsenative wissenschaftliche Untersuchung gegründet ist, oder ob sie zu dieser Ansicht durch eigene Befragungen im „Nichtseßhaftenbereich“ gekommen ist.

Beides ist wohl unwahrscheinlich, denn die Arbeit mit Obdachlosen und Gespräche mit ihnen über ihre vorgetäuschte Notlage ergeben andere Ergebnisse. Der Teufelskreis von fehlender Wohnung, fehlender Arbeit und fehlendem Einkommen kann nicht mit den zur Verfügung stehenden Sozialleistungen durchbrochen werden. Wer abzüglich bestimmter Beträge (die das Sozialamt definiert) im Höchstfall cirka 360 Mark im Monat vom Sozialamt erhält, kann damit auf der Straße nicht überleben. Kann man keine Wohnung nachweisen, bekommt man auch keine Arbeit, so daß oft nur noch die „Bettelei“ als Arbeit übrigbleibt. Dieses Zubrot als „lukrative Einnahmen“ zu bezeichnen, verrät ein hohes Maß an Zynismus, ist aber logische Konsequenz der Bemühungen, von Versäumnissen in der Sozialpolitik der Bundesregierung abzulenken.

Das Armutsproblem wird individualisiert an die betreffende Bevölkerungsgruppe zurückgegeben. Daraus folgt eine sehr bequeme, das (Politiker-)Gewissen entlastende Haltung: Die Leute sind ja an ihrer Lage selbst schuld, politisch sinnvolle Lösungen brauchen nicht entwickelt und durchgesetzt werden. Vom gleichen Geist scheint auch die Äußerung von Jürgen Dinse (SPD) durchweht zu sein. Bettelei als Ausdruck persönlicher Entfaltungsfreiheit zubetrachten, kann wohl nur als Ironie angesichts der Überlebenstechniken der meisten Bettler betrachtet werden. Persönliche Entfaltungsfreiheit ist ohne gesicherte materielle Grundlage - zumindest in unserer Gesellschaft - nicht möglich. Insgesamt wird deutlich: Ein Beirat, der sich mit politischen Themen dieser Stadt auseinandersetzt, belebt alte Vorurteile und diskrimiert bestimmte Bevölkerungsgruppen. Wer desweiteren als offensichtlicher Laie ohne die Fachkompetenz von Praktikern, Betroffenen und Wissenschaftlern auskommt, disqualifiziert sich selbst oder verfolgt damit bestimmte politische Interessen.

Ahrens, Kelle, Wessels, alle aus Bremen

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