: Pazifist mit wütender Musik
Tod sei immer auch ein Anfang, sagt Richard Danielpour, Fellow an der American Academy in Berlin. Deshalb habe er ein Requiem komponiert. Am 11. September 2001 wurde es vollendet
von WALTRAUD SCHWAB
Die Druckfahnen seiner Partitur lagen fertig auf dem Tisch. „An American Requiem“, ein amerikanisches Requiem, hat Richard Danielpour komponiert. „Weil Tod immer auch Anfang ist“, sagt er. Seit einer Woche ist er Fellow der American Academy in Berlin. Im Garten der Villa am Wannsee stapelt er beim Erzählen ein imaginäres Manuskript vor sich auf. Mitten in der Geste bricht er ab, genau wie vor einem Jahr, als er entsetzt feststellte: „Das Requiem hat keine Widmung.“
Ein Werk dieser Größe brauche eine Zueignung, glaubt er. Wie Straßen oder U-Bahnhöfe, die durch ihre Namen Gedächtnis sind und nicht nur funktionaler Ort. Leonard Bernstein, sein Mentor, habe seine Sinfonie Nr. 3, „Kaddish“, Anfang November 1963 ohne Widmung beendet. Kurz danach starb Präsident Kennedy. Das Werk wurde Bernsteins Erinnerung an ihn.
Aufgewühlt von solchen Gedanken, rief Danielpour am nächsten Morgen im Büro seines Verlegers an. Er landete in der Werbeabteilung. Außer sich brüllte Deborah Horne, eine Angestellte, in den Hörer, dass gerade ein zweites Flugzeug in das World Trade Center geflogen sei.
Von ihrem Fenster aus konnte Horne die Zwillingstürme sehen. „Vielleicht so weit entfernt wie die Boote da drüben.“ Danielpour zeigt auf den Wannsee. Nur Wasser und weiße Segel sind zu sehen. „Es brennt!“, brüllte Horne ins Telefon. „Überall Feuer. Qualm. Jemand muss helfen. Retten. Leute springen aus den Fenstern. Von ganz oben. In Gruppen. Zu zweit. Allein.“ Danielpour merkt nicht, dass er sich beim Erzählen einen nicht vorhandenen Hörer ans Ohr hält.
Das ganze Horrorszenario, das fürs Auge aufbereitet um die Welt ging, hat der 46-jährige Komponist zuerst einmal erzählt bekommen; gehört, nicht gesehen. Für einen Komponisten ein Segen. Für jemanden, dem die Musik als Kommunikationsmittel dient, noch mehr. Danielpour brauchte keine Schicksalsgläubigkeit, um zu verstehen, dass sein „Amerikanisches Requiem“, einen Tag nachdem es fertig war, wirklich vollendet wurde. Gewidmet „all jenen, die infolge der tragischen Ereignisse vom 11. September 2001 starben; und in Hochachtung vor dem amerikanischen Soldaten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“.
Der amerikanische Komponist – klein, expressiv, schwarze Haare, braune Augen – ein Patriot? Ein Militarist? – „Ich bin so sehr Pazifist, wie es einem nur gelingen kann, Pazifist zu sein“, sagt er. Sein Amerikanisches Requiem entstand, nachdem er unzählige Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg, dem Korea- und dem Vietnamkrieg interviewt hatte. Unerwartet für ihn, war er mit einem Scharfblick auf die innere Logik des Krieges konfrontiert, die ihm Anerkennung abtrotzte.
Soldaten müssten nichts beschönigen, meint Danielpour. Er habe sie nach den Gegnern befragt. Sie hätten mit Respekt über sie gesprochen. Er habe sie nach den Kameraden gefragt. Mehr als für alles andere seien Soldaten bereit, für diese ihr Leben zu geben. Er wollte wissen, was die letzten Worte von Sterbenden sind. „Mutter.“ Pieta nicht nur Passion, sondern Wahrheit. „Für euch zu Hause mag Krieg ein soziopolitisches Phänomen sein. Für die Soldaten aber geht es ausschließlich um menschliches Leiden“, sollen sie gesagt haben. „Warum müssen wir uns noch immer gegenseitig umbringen. Wir, die menschliche Familie.“ Der New Yorker sagt es in den Berliner Spätsommerhimmel, wie es nur auf Amerikanisch gesagt werden kann: voll Leidenschaft, wehmütig und klar.
Vor dem Hintergrund dieser Gespräche hat Danielpour, Amerikaner iranisch-jüdischer Herkunft, ein Requiem komponiert, das zwischen orchestraler Wut, repetitivem Gesang und tiefer Versöhnung kreist. Und das einer Hoffung geschuldet ist, die der frühere israelische Außenminister Abba Eban formuliert habe, als er fragte, wie wohl eine Zeit wäre, in der Kriege überholt sind.
Unterstützt durch großes Orchester werden die lateinischen Texte des Requiems vom Chor gesungen. Die Stimmgewalt, in der der Einzelne ausschließlich zum Gesamtwerk beitragen kann, spiegelt sich darin. Abgesetzt davon: das Individuelle, die Solisten. Sie rezitieren Gospelverse und amerikanische Gedichte des 20. Jahrhunderts, die die Sinnlosigkeit eines zu frühen Todes anprangern, verwoben mit dem lateinischen Text. Politik hier, Alltag da.
Richard Danielpour ist erfolgreich in Amerika. Für einen, der ernste Musik komponiert in einem Land, „das zwischen Unterhaltung und Kunst nicht unterscheidet“, wie er meint, eine Leistung. Seinen Kompositionen wird nachgesagt, dass sie etwas Uramerikanisches spiegeln, weil sie das Neue mit der großen Geste und dem Wiedererkennbaren verbinden. „Ein amerikanischer Komponist ist per definitionem eigentlich ein eklektischer Komponist“, sagt er, weil sich darin die Bereitschaft zur Kommunikation und zum Mitgefühl zeige. Etwas, was letztendlich auch die New Yorker durch den 11. September gewonnen hätten. „Zuerst war die Stadt wie tot. Gelähmte Stille und Geruch von verbranntem Fleisch.“ Seit das Fahnenschwenken und Patriotismusgehabe vorbei sei, könne man sehen, dass New Yorker sensibler und mitfühlender miteinander umgingen.
In Berlin will Danielpour eine Oper über die Sklavin Margaret Garner fertig stellen. An ihrer Geschichte zeigen sich die großen Fragen des Menschseins. Das Libretto schreibt die Nobelpreisträgerin Toni Morrison. Die Brutalität des 11. September aber hat den Komponisten im Nachhinein veranlasst, die Erlösungspassage des Requiems musikalisch „gewalttätiger und wütender“ zu machen. Unterstützt von Pauken und dissonanten Bläsereinsätzen, schreit der Chor sein: „Erlöse mich, oh Herr, vom ewigen Tod, an jenem fürchterlichen Tag, wenn Himmel und Erde erschüttern. Jenem Tag, an dem du die Welt mit Feuer richten wirst. … Jenem Tag des Hasses, der Katastrophe und Pein, ein großer Tag und überaus bitter …“
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