piwik no script img

Paulistano, nicht Brasilianer

■ Interview mit dem italienischstämmigen Schriftsteller Silvio Fiorani aus São Paulo

Aufgrund der eigenen Familiengeschichte beschäftigt sich Silvio Fiorani in seinen Werken mit dem Thema Migration. Sein in Brasilien bekanntestes Buch, der Bildungsroman „Judas“, soll ins Französische und Englische übersetzt werden.

taz: Warum gibt es unter den japanischen Immigranten in São Paulo kaum Bettler?

Silvio Fiorani: Arme aus dem Orient habe ich noch nie gesehen. Die Elenden hier sind immer nur Schwarze oder Nordestinos (Brasilianer aus dem Nordosten des Landes, d. Red.). Oder Indianermischlinge. Die Ausländer kommen schon mit einem bestimmten Vorsatz nach Brasilien. Sie wissen, was sie wollen und verfügen über eine bessere Bildung. Für die Nordestinos jedoch ist die Flucht nach São Paulo die letzte Chance zum Überleben. Sie hängen sehr an ihrer Gegend. Wenn sie dort ein Stückchen Land bebauen könnten, würden sie dort bleiben.

Existiert unter den Einwanderern eine soziale Hackordnung? Welche Gruppe wird am meisten diskriminiert?

Die Benachteiligung der Nordestinos ist sehr groß. Dies wurde besonders während der Amtszeit der Bürgermeisterin Luiza Erundina deutlich. (Die Kandidatin der brasilianischen Arbeiterpartei PT wurde 1988 überraschend zur Bürgermeisterin von São Paulo gewählt. Sie stammt aus dem nordöstlichen Bundesstaat Paraiba, d. Red.). Vertreter der Mittel- und Oberschicht prophezeiten, daß durch die Wahl Erundinas Millionen von Nordestinos nach São Paulo kommen und die Stadt „verschmutzen“ würden. Untersuchungen des brasilianischen Statistikamtes IBGE beweisen das Gegenteil: Der Strom der Immigranten aus dem Nordosten fließt nicht mehr ausschließlich in die Hauptstadt, sondern auch ins Landesinnere des Bundesstaates São Paulo.

Kommen die Immigranten auch aus den lateinamerikanischen Nachbarländern?

Nein. Wirtschaftsflüchtlinge aus Argentinien, Paraguay oder Bolivien fallen kaum ins Gewicht. São Paulo erlebte mehrere Einwanderungsschübe. Vor gut hundert Jahren kamen die Italiener, meine Großeltern zum Beispiel kamen aus der Toskana. Danach kamen die Araber und die Japaner. In den letzten zehn Jahren sind die Koreaner dazugekommen. Sie betreiben Handel mit Importwaren und ziehen direkt in die Stadt. Die meisten der Immigranten oder ihre Nachfahren haben die anfängliche Armut schnell überwunden. Nur die innerbrasilianischen Migranten nagen am Hungertuch.

Wieso gibt es dann in Brasilien keinen Ausländerhaß?

Brasilianer mögen Ausländer. Wer hier Englisch spricht, wird bewundert. Sie meinen, Ausländer seien etwas Besseres. Es gibt hier so eine Art brasilianischen Minderwertigkeitskomplex. Doch die Bewunderung beschränkt sich in erster Linie auf Amerikaner und Europäer, Afrikaner hingegen sind nicht unbedingt willkommen. Die sogenannte Rassendemokratie, die Gilberto Freire in seinem Buch „Herrenhaus und Sklavenhütte“ erfunden hat, gibt es in Wirklichkeit nicht. Während der Sklaverei kamen sechs Millionen Afrikaner nach Brasilien und vier Millionen europäische Einwanderer. Doch obwohl sie in der Mehrheit waren, haben sie bis heute nichts zu vermelden.

Stiftet São Paulo Identität?

Ich wohne in einer Gegend, wo hauptsächlich Weiße leben, denen es gut geht. Damit identifiziere ich mich. Doch wenn ich mich in die Ost- oder Südzone begebe, wo die riesigen Armenviertel sind, wird es mit der Identität schwierig. Die Stadt ist einfach zu groß.

Fühlen Sie sich mehr als Italiener oder als Brasilianer?

Ich trage beide Nationalitäten in mir. Ich bin in São Paulo aufgewachsen, und das prägt. Auf der anderen Seite stammt meine ganze Familie aus Italien. Zwar ist meine Muttersprache Portugiesisch, doch das italienische Wesen ist sozusagen meine intellektuelle Identität. Wenn ich in Italien als Schriftsteller leben könnte, würde ich gerne gehen, zumindestens zeitweise dort leben. Auf der anderen Seite leben hier in São Paulo meine Freunde und meine Familie, und ich brauche die Stadt als Arbeitsgrundlage. Ich sage, die Lage ist hier schlecht, doch genau darüber schreibe ich. Ich bin zwar dadurch nicht reich geworden, aber ich konnte mich entfalten. Ich fühle mich als Paulistano, nicht als Brasilianer.

Interview: Astrid Prange

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen