: Patriotismus und gefrorene Meeresfrüchte Von Ralf Sotscheck
Irland treibt führungslos im Atlantik: Premierminister Albert Reynolds, sein Stellvertreter Dick Spring und sieben ihrer Kabinettskollegen befinden sich zur Zeit auf Dienstreisen außer Landes. Sie wollen ihr Scherflein dazu beitragen, die irische Wirtschaft anzukurbeln. Der eine wirbt für gefrorene Meeresfrüchte von der Grünen Insel, der andere spricht auf einem Handelsseminar, der dritte besucht eine Wohltätigkeitsveranstaltung, und ein weiterer eröffnet eine Anlaufstelle für irische Emigranten.
Wie es der Zufall will, finden alle diese Amtshandlungen ausgerechnet in New York und Orlando statt, wo Irland die Vorrundenspiele bei der Fußballweltmeisterschaft austrägt. Natürlich verlangt es die patriotische Pflicht, das eigene Team im Stadion anzufeuern, wenn man ohnehin in der Stadt ist. Man hätte es den Politikern gar nicht krummgenommen, daß sie die „Boys in Green“ auf Staatskosten nach Übersee begleiten – schließlich wären die 3,5 Millionen Daheimgebliebenen selbst gern auf Dienstreise in die USA gefahren. Ärgerlich wurden sie erst, als man sie obendrein für dumm verkaufen wollte. Marineminister David Andrews, der eine Handvoll Ministerialangestellter auf die Reise mitgenommen hat, jammerte scheinheilig, daß die Delegation „eine ganze Reihe erdrückend langweiliger Geschäftsgespräche“ über sich ergehen lassen müsse.
Unterdessen schauten der Premierminister und seine dienstreisenden Töchter kurz bei den irischen Spielern im Hotel vorbei. „Reynolds ist ein netter Kerl“, stöhnte Trainer Jack Charlton, „aber das ist jetzt schon das vierte Mal, daß er uns Glück für das Spiel gegen Italien wünscht.“ Offenbar half das – die Iren gewannen am Samstag 1:0, und auf der Insel nahm der Wahnsinn seinen Lauf.
Wer sich nicht für Fußball interessiert, hat schlechte Karten. Die gesamte Nation ist grün gekleidet, die Angestellten der Bank von Irland haben sich die Haare grün gefärbt, viele haben ihre Häuser in den Landesfarben gestrichen, die meisten Autos sind – auf Kosten der Sicht – beflaggt, und bei der Sonntagsmesse betet die Gemeinde für die Nationalelf. Beim Einkauf erhält man die neuesten Informationen über Roy Keanes Knie, in den Zeitungen und im Fernsehen gibt es – einschließlich der Werbung – außer Fußball gar nichts, Theater und Kinos haben dichtgemacht, und selbst Busse, Bahnen und Taxis haben am Samstag anderthalb Stunden vor Spielbeginn den Betrieb eingestellt. Für die Kneipen sollte es das Geschäft des Jahrhunderts werden. Von den 750 Dubliner Pubs hatten nur zwei keinen Fernseher aufgestellt. Andere installierten dagegen sogar auf den Toiletten Geräte, damit die Fans beim Pinkeln auf dem laufenden blieben.
Doch am Samstag vormittag stimmte die Gewerkschaft des Dubliner Barpersonals mit knapper Mehrheit für einen Streik, um eine Lohnerhöhung von einem Prozent durchzusetzen. Drei Viertel aller Pubs in der Hauptstadt sind seitdem geschlossen, nur die Familienbetriebe sind geöffnet, lassen aus Platzmangel aber nur die Stammkundschaft herein. Den irischen Fans war das egal: Nach dem Schlußpfiff am Samstag begannen überall Straßenpartys, die bei Redaktionsschluß (Sonntag, 15 Uhr) noch andauerten.
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