Passionsspiele: Um wie viel Uhr soll Jesus sterben?
Christus wird bei den Passionsspielen am Tag gekreuzigt. Schon immer. Regisseur Christian Stückl will das Spektakel auf den Abend verlegen - und spaltet ganz Oberammergau.
OBERAMMERGAU (taz) Der Burkhart Toni ist heute nicht gut drauf. Steif steht er auf der Bühne, in Holzfällerhemd und Jeans, immer wieder verhaspelt er sich, die Rolle des von Gott verlassenen Königs Zedekia sitzt noch nicht. Regisseur Christian Stückl, 45, zündet sich eine Zigarette an, hastig raucht er die ersten Züge, innerhalb kurzer Zeit ist die Zigarette halb heruntergebrannt. Dann springt Stückl auf und stürmt auf die Bühne. "Toni, du musst aggressiver sein!", ruft er und spielt vor, wie er das meint: "Wo is denn dieser Gott? Dieses Arschloch von Gott!" Stückl schnippt die Kippe auf die Bühne, hustet -und zündet sich gleich die nächste an. "Nur ihr seid schuld, dass ich 25 Schachteln am Tag rauch", ruft er seiner Truppe zu.
Der Mann ist nervös. Sein "Jeremias" hat am Freitag Premiere, hier auf der Freilichtbühne im Oberammergauer Passionstheater. Aber was ihm noch größere Magenschmerzen bereitet, ist das, was am Sonntag danach ansteht. Da stimmen die Oberammergauer darüber ab, ob die Passionsfestspiele 2010 in die Abendstunden verlegt werden, wie Stückl es will. Bereits vor einem Jahr hat der Gemeinderat ihm genehmigt, das Leiden Jesu Christi statt wie bisher von 9.30 bis 17.30 Uhr von 14.30 bis 22:30 Uhr auf die Bühne zu bringen, der besseren Wirkung wegen.
Die Kreuzigung in der Nacht, mit Fackellicht und Scheinwerfern: das gabs noch nie bei den Passionsspielen in Oberammergau. Und soll es auch nie geben, meinen die Mitglieder einer Bürgerinitiative, die 655 Unterschriften gesammelt hat - und so einen Bürgerentscheid erzwingen konnte. Rund 4.000 Oberammergauer dürfen nun mit ihrem Kreuz bestimmen, zu welcher Uhrzeit der Heiland hingerichtet wird. Gleichzeitig stimmen sie aber auch über ihren Spielleiter ab. Denn Stückl hat den Bürgerentscheid zur Vertrauensfrage gemacht. Im Gemeinderat hat er wütend seinen Vertrag auf den Tisch geknallt. "Wenn es für die Kleingeistigkeit eine Mehrheit gibt, muss ich gehen", sagt Stückl.
Der Streit spaltet das Dorf. Es ist eine Auseinandersetzung zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Fortschritt und Tradition. Ein Streit, der alte Wunden wieder aufreißt. Hört man sich um in Oberammergau, ist der Bürgerentscheid völlig offen. "Ich würd sagen, 51 zu 49", sagt eine Frau. Die Frage ist nur: Für wen?
Seit 1634 bringen die Oberammergauer etwa alle zehn Jahre das Leiden und Sterben Jesu auf die Bühne. Und alle zehn Jahre zanken sie sich um die Umsetzung der Passionsfestspiele, bei denen fast die Hälfte der 5.300 Dorfbewohner selbst mitspielt. Lange galt das Laientheater als frömmelnd, verstaubt, ewig gestrig. Trotz Boykottaufrufen von jüdischen Organisationen und Intellektuellen wie Heinrich Böll hielten die Oberammergauer bis in die 80er-Jahre an antisemitischen Passagen fest, in denen die Juden als "Gottesmörder" und "Intriganten" verdammt wurden. Erst ab 1987 kam es unter dem neuen Regisseur Christian Stückl zu echten Reformen. 1990 klagten sich drei Frauen vor Gericht ein Mitspielrecht ein. Bis dahin durften nur unverheiratete Frauen unter 35 mitspielen. Seit 1997 dürfen auch Nichtchristen auf der Bühne stehen. Die nächsten Passionsspiele finden mit über 100 Aufführungen von Mai bis Oktober 2010 statt. Erwartet werden über 500.000 Besucher.
Einen von Stückls schärfsten Gegnern kann man gleich vom Passionstheater aus sehen. Der Souvenirshop "Heigls Gift Paradise" ist keine fünfzig Schritte vom Haupteingang entfernt. "Gift Paradise", sagt Stückl, lacht und zeigt auf das Geschäft. "Giftküche wäre passender." Max Heigls Laden ist voll an diesem Sonntagnachmittag. Vier Reisebusse haben gerade vor dem Souvenirshop gehalten, darin Amerikaner, Inder, Japaner und Norddeutsche, die auf ihrem Weg nach Neuschwanstein einen Shoppingstopp in Oberammergau machen. Max Heigl, 72, dreht mit einem Stock den Zeiger einer Kuckucksuhr auf die volle Stunde, sodass sich das Türchen öffnet. Ein älteres amerikanisches Ehepaar beeindruckt das wenig. Aber immerhin kaufen sie eine Hummel-Porzellanfigur für 139 Euro. "Its an old one", erzählt Heigl ihnen. "There stands West Germany on it."
Heigl hat Gründe, gegen eine späte Aufführung zu sein: Hört das Passionsspiel erst um halb elf auf, haben die Touristen keine Zeit mehr, bei ihm einzukaufen - und müssten so womöglich ohne König-Ludwig-Bierkrüge und Oberammergau-Kühlschrankmagneten abreisen. Doch um das Geld gehe es ja gar nicht. "Der Herr Stückl hat nur sich und seine Showeffekte im Kopf", wettert Heigl, der selber bei sieben Aufführungen auf der Bühne stand. Eine Provinzposse, kaum mehr - wären die Oberammergauer Passionsspiele nicht ein bayerisches Heiligtum, ähnlich wie das Oktoberfest, die Walhalla oder der Starkbieranstich. Seit 1634 werden die Spiele alle zehn Jahre aufgeführt, von Ausnahmen abgesehen. Zuletzt, im Jahr 2000, kam eine halbe Million Besucher zu den Passionsspielen, verteilt über fünf Monate, in denen das Theaterstück fünfmal die Woche aufgeführt wurde. Viele reisen aus den USA oder England an, wo Oberammergau genauso bekannt ist wie das Münchner Hofbräuhaus. In Festspieljahren lebt das ganze Dorf von den Spielen - und für die Spiele. Fast die Hälfte der 5.300 Einwohner spielt selbst bei dem Laientheater mit.
Kein Wunder also, dass die Oberammergauer alle mitbestimmen wollen. Das war schon immer so. Doch so hoch wie jetzt schlugen die Wogen schon lange nicht mehr. Michael Altgassen, 50, macht sich Sorgen, dass seine Hotelgäste in der Dunkelheit nicht mehr nach Hause finden, sollte das Theater erst in der Nacht enden. Sein Hotel Arnika steht eine Viertelstunde vom Theater entfernt am östlichen Dorfende. "Die kleinen Gässchen hier sind so romantisch wie vertrackt", sagt er. Doch der wahre Grund für Altgassens Ablehnung ist ein anderer: Je später die Gäste das Hotel erreichen, desto länger muss Altgassen arbeiten, wahrscheinlich wird er sogar mehr Personal einstellen müssen. "Natürlich geht es auch ums Geschäft", sagt Altgassen. "Wir hängen doch alle am Tropf der Passion."
Bürgermeister Rolf Zigon ärgern solche Argumente. "Oberste Priorität muss die Qualität der Aufführung haben", sagt der CSU-Politiker. Und nicht etwa die Frage, "wie viele Zimmermadln es braucht, um morgens die Betten zu machen." Zigon hat sich früh auf Stückls Seite geschlagen, wirbt auf Plakaten, die überall in Oberammergau hängen, gemeinsam mit über 100 Bürgern für eine Aufführung in den Abendstunden. "Die Zeiten ändern sich", steht auf dem Plakat. Aber nur, wenn die Oberammergauer mitmachen. Und wenn nicht?
"Wenn Stückl aufgibt, haben wir ein Riesenproblem", sagt Zigon. Es wäre der GAU für die Passionsspiele. Der Oberhammer-GAU.
Denn Stückl hat in den vergangenen 20 Jahren erreicht, was lange als unmöglich galt: Er hat den Passionsspielen den Muff von 350 Jahren ausgetrieben. Unter ihm wurden Kostüme und Text völlig umgekrempelt. Er hat antisemitische Passagen gestrichen, die einst Hitler zu einem Passionsspiel- Bewunderer gemacht hatten - "gegen massiven Widerstand im Dorf", wie er sagt. Unter Stückls Spielleitung durften erstmals auch verheiratete Frauen und Muslime mitspielen. Auch wenn es einige Bürger anders sehen: Mit seinen Reformen hat er die Passion gerettet. Stückl Christian Superstar, der erste Profiregisseur, den Oberammergau hat. Seit fünf Jahren ist er Intendant am Münchner Volkstheater, 2006 durfte er die Eröffnungsfeier zur Fußball-WM inszenieren, die Kulturkritiker zählen ihn zu den "Neuen Wilden", die den Freistaat aufmöbeln. Er müsste sich diesen Dorfkrieg schon lange nicht mehr antun - und tut es doch.
"Ich könnt nicht schlafen, wenn das Passionsspiel ohne mich wär", sagt Stückl auf dem Weg vom Theater zu seiner Oberammergauer Wohnung, die im Ortskern zwischen der Magdalenengasse und der Mannagasse liegt. Auf der anderen Straßenseite steht das Elternhaus, das Gasthaus Rose. Schon als Kind habe er dort davon geträumt, einmal Spielleiter zu werden, erinnert sich Stückl. "Das Passionsspiel gehört einfach zu mir dazu. Dafür werde ich auch weiter kämpfen."
Doch auch die Gegenseite ist zum Kampf bereit. Im Ort ist hinter vorgehaltener Hand zu hören, dass es "wieder so wie 1980" werden solle. Vor all den Modernisierungen. Vor dieser ganzen politischen Korrektheit. Vor Stückl. Im Verband mit Hoteliers und Souvenirhändlern wittern die Traditionalisten ihre Chance. Und können dabei auf einen prominenten Vorstreiter setzen: Florian Streibl, 44, Sohn des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl und Fraktionsvorsitzender der Oberammergauer Wählervereinigung "Für unser Dorf". Streibl hat schon in der Vergangenheit für eine "eindeutig traditionelle Fassung" der Passion gekämpft. Und tut es jetzt wieder. "So wies bisher über Jahrhunderte war, hat es doch wunderbar funktioniert", sagt Streibl, der von seiner Anwaltskanzlei aus auf das Passionstheater schauen kann. "Warum also dieses Experiment, das für die Gemeinde bitter ausgehen kann?"
Die Menschen in Oberammergaus Gassen treiben unterdessen ganz praktische Fragen um: Werden die Zuschauer während der Vorstellung einschlafen, wenn sich das Stück so lang in den Abend hineinzieht? Wie kommen die Gäste von außerhalb so spät noch nach Hause? Und wird es nicht viel zu kalt am Abend? "Der Christus hängt 20 Minuten im Lendenschurz am Kreuz", sagt ein Gegner der späten Vorführung. "Wenn der nicht krank wird, wer dann?"
Hier zumindest kann der Burkhart Toni die Gemüter beruhigen. Er hat im Jahr 2000 den Jesus gespielt und weiß, wie es sich dort oben anfühlt. "In der letzten Spielwoche Anfang Oktober lag Schnee, die ganze Bühne war weiß", erinnert sich der 37-jährige Förster nach der Probe im Passionstheater. "Kälter wirds nimmer, egal ob tags oder nachts."
Das Leiden, das hat in Oberammergau schon immer dazugehört. Es hat nur selten schon drei Jahre vor der Passion angefangen.
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