Parlamentswahlenin Tschechien: Billiger Populismus und Angstkampagnen
Bei den Parlamentswahlen an diesem Wochenende könnten die Sozialdemokraten stärkste Kraft werden. Eine Mehrheit dürften sie jedoch klar verfehlen. Schwierige Suche nach Koalitionspartnern.
PRAG tazSauer aufgestoßen ist Jaroslav Navrátil der tschechische Wahlkampf: Seitdem seiner Mutter einen Postzahlschein über 121.000 Kronen (5.000 Euro) ins Haus geflattert ist, steht die Rentnerin aus Westböhmen unter Schock. "Sie zitterte und wiederholte immer wieder, dass sie nichts getan habe, der Gerichtsvollzieher komme und uns das Haus wegnehme", beschreibt Jaroslav Navrátil den Zustand seiner Mutter.
Nur langsam begriff die 77-Jährige, dass es sich bei dem rosa Zettel nicht um eine wirkliche Zahlungsaufforderung handelte, sondern um die Wahlkampagne der konservativ-liberalen Partei TOP 09 und ihres stellvertretenden Vorsitzenden Miroslav Kalousek. Mit der rosaroten Schocktherapie wollte Kalousek, zwischen 2007 und 2009 Finanzminister der grün-konservativen Regierungskoalition von Mirek Topolánek, auf die wachsende Staatsverschuldung hinweisen. Die liegt momentan bei eben jenen 5.000 Euro pro Kopf und 36 Prozent des tschechischen Bruttoinlandsprodukts. "Wir wollten den Wähler darauf aufmerksam machen, dass Staatsschulden die Schulden eines jeden Bürgers sind", begründete Kalousek seine Aktion. Bei Jaroslav Návratil dürfen Kalousek und seine TOP 09, wohl kaum auf eine Stimme hoffen. "Das Ganze ist doch grenzwertig", schimpfte Navrátil.
Grenzwertig und populistisch - willkommen im tschechischen Wahlkampf. 25 Parteien und 5.053 Kandidaten kämpfen am Freitag und Samstag um einen Platz an der Sonne im 200-köpfigen Abgeordnetenhaus. Nur fünf Parteien werden laut Umfragen den Sprung ins Parlament auch schaffen. Keine von ihnen wird allerdings eine regierungsfähige Mehrheit erhalten.
Die beste Verhandlungsposition haben laut Umfragen die Sozialdemokraten (CSSD). Die stehen mit einem Wähleranteil von rund 30 Prozent als stärkste Partei da. Gefolgt werden sie vom konservativen Lager: der Bürgerpartei ODS, die 19 Prozent der Tschechen wählen würden, und der TOP 09, eine Abspaltung der Christdemokraten mit 14 Prozent der Wählerstimmen. Die Rechnung der beiden konservativen Parteien idealen Koalitionspartner zu sein, wird kaum aufgehen. Zu geschwächt ist die ODS nach ihrer schmählichen Periode mit Parteichef Topolánek und durch innerparteiliche Kämpfe um dessen legitime Nachfolge.
Die TOP 09 wendet sich mit einem Blut-Schweiß-und-Tränen-Programm und auch mit ihrem Vorsitzenden Karl Schwarzenberg, adliger Exaußenminister und einer der beliebtesten Politiker des Landes, vor allem an junge, besser verdienende Städter. Mehr Chancen auf dem Land hat dagegen die Kommunistische Partei (KSM), die 13 Prozent Zustimmung erhält.
Überraschung des Wahlkampfs ist die Neugründung "Öffentliche Angelegenheiten" (VV) - eine eher undurchsichtige populistische Gruppierung um den ehemaligen Fernsehjournalisten Radek John. Die VV hat zwar kein glaubwürdiges politisches Programm, hat es aber durch Fotos ihrer spärlich bekleideten Wahlkandidatinnen, "Bürgerwachen", die Obdachlose aus Parks vergraulen, und die Popularität ihres Vorsitzenden innerhalb von kurzer Zeit auf einen Wähleranteil von 11 Prozent gebracht.
Demgegenüber könnten sich die tschechischen Grünen wie auch die Christdemokraten mit einer außerparlamentarischen Zukunft abfinden müssen. Beide Parteien drohen an der Fünfprozenthürde zu scheitern.
Während nun die Politiker jeglicher Couleur ihre potenziellen Wähler mit Versprechen von einer besseren Zukunft zu locken versuchen, seien es nun - je nach Partei - niedrigere Staatsschulden, höhere Renten, ein kostenloses Gesundheitssystem oder eine Steuerreform, beschnuppern sich jenseits der Wahlkampfmeetings und Kandidatenduelle schon mal potenzielle Koalitionspartner. Stellung bezogen hat bislang nur die TOP 09, indem sie die SSD klar als Koalitionspartner ausgeschlossen hat. Ansonsten ist alles offen - von sozialdemokratischer Minderheitsregierung bis hin zur großen Koalition zwischen SSD und ODS. Nur eines ist sicher: Eine starke Regierung wird aus diesen Wahlen kaum hervorgehen.
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